(Dieser lange Satz entstand im Rahmen der Ausstellung ASTRAL SLEAZE mit Arbeiten von Natalie Price Hafslund und Barbara Signer im Projektraum am See im Kornhaus Rorschach und wurde in Form einer Textinszenierung mit Geräuschkulisse aufgeführt. Wer mag, kann die Geräuschkulisse mit einem Klick auf das Play-Symbol abspielen lassen.)
Man hört vereinzelte Tropfgeräusche. (0:00)
Steter Tropfen, sagt man, steter Tropfen, braucht so lange, braucht so viele, und dann, dann genügt ein einziger, um das Fass zum Überlaufen zu bringen, ein einziger Überläufer macht Ruhe und Frieden zunichte, und wäre der gleiche Tropfen auf den heissen Stein gefallen, es wäre nichts geschehen, nichts hätte sich verändert, nicht einmal der Stein, keine Höhlung, nichts, der Tropfen hätte sich in Luft aufgelöst, doch dieser Tropfen, er fiel ins Fass, und als er es tat, sprengte er die Grenze des Tolerierbaren, dieser Tropfen, er sorgte für die Eskalation, ganz allein, ohne von seiner Macht zu wissen oder auch nur zu ahnen, und nun ist es geschehen, das Fass läuft über, auf den besagten Tropfen folgen unzählige weitere Tropfen, die es ihm gleichtun, es sind schamlose Nachahmer, doch sie können nicht anders, es liegt in ihrer Natur, und…
Tropfgeräusche werden vielfacher. (02:30)
… wie es immer mehr Tropfen werden, verändern sie ihre Daseinsform, sie verbinden und verbünden sich, werden zu einem Rinnsal, das sich an der Aussenseite des Fasses seinen Weg nach unten sucht, und in dieser neuen Form, als Rinnsal, als primitive Form von Fliessgewässer, sind die einzelnen Tropfen keine Tropfen mehr, die Tropfen hören auf zu existieren, sie geben sich selbst auf, um Teil von etwas Grösserem zu sein, und jener Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, dieser kleine Revolutionär, er verschwimmt und verschwindet in der Menge, gerät in Vergessenheit, während das Rinnsal allmählich grösser wird und sich immer weiter erstreckt, sich entfernt von dem Punkt, an dem alles begann, sich entfernt von der Quelle, das Wasser beginnt zu fliessen, alles fliesst, alles fliesst…
Tropfgeräusche hören auf, ein Plätschern setzt ein. (03.30)
… alles fliesst, das Blut durch die Venen, der Schweiss aus den Poren, die Tränen aus den Augen und hinein in die Welt, alles fliesst, der Strom durch die Kabel und Leitungen, das Geld auf schwarze Konten, alles fliesst, alles geht den Bach runter, und der Bach, er fliesst um die Steine, all das Wasser, all die Steine, und obwohl so viele Tropfen sich verbunden haben, liegen keine gehöhlten Steine im Bachbett, jedoch ganz viele Steine mit glatter Haut, ganz fein, ganz weich, sie geniessen das Streicheln des Wassers, da ist er wieder, der Friede, und…
Vogelgezwitscher gesellt sich zum Plätschern. (04:30)
… obwohl da Geräusche sind, ist da eine einträchtige Ruhe, eine stille Übereinkunft der Elemente, da ist das Wasser, da sind die Steine, da sind Bäume und Sträucher, das sind Amseln und Spatzen, weit oben kreist vielleicht ein Mäusebussard, doch alles verbindet sich zu einer bemerkenswerten Harmonie, alles fliesst, alles fliesst, und man könnte einfach nur zuhören, reglos und entwaffnet, könnte minutenlang zuhören, einfach zuhören, einfach zuhören…
… doch dann…
Geräusch eines Steines, der ins Wasser fällt. (05:25)
… wirft ein Kind einen Stein ins Wasser, irgendein Kevin oder Leon oder Luca wirft aus Spass oder Langeweile oder angestauter Aggression einen Stein ins Wasser und zerstört die Harmonie, zerstört den Frieden, und natürlich sind Kinder unschuldig, sie tragen jene Unschuld noch in sich, die uns beim Erwachsenwerden entglitten ist, aber trotzdem, Kevin, oder Leon, oder Luca, das war unnötig, die Amseln und Spatzen sind verstummt, der Mäusebussard ist fortgeflogen, Kevin, oder Leon, oder Luca, nur wegen deinem Stein, oder nein, nicht wegen dem Stein, sondern wegen dir, Kevin, oder Leon, oder Luca, und vielleicht beginnt es hier, an diesem Bach, vielleicht beginnt jedes Unglück genau hier, bei dir, Kevin, oder Leon, oder Luca, vielleicht kannst du die Harmonie nicht ertragen, vielleicht können wir alle nicht mit dem Frieden und der Ruhe umgehen, denn irgendjemand wirft doch immer den ersten Stein, und wenn nicht Kevin, dann Leon, oder Luca, doch zum Glück gibt es viel zu viele Steine am Bach, wir können nicht alle werfen, und bald fangen die Amseln und Spatzen wieder an zu singen, der Mäusebussard kreist am Himmel, und das Wasser, es fliesst weiter, umspielt die Steine, windet sich um Biegungen, und während es fliesst, weitet es sich aus, wird breiter und tiefer, der Bach wird zum Fluss, alles fliesst, alles fliesst…
Das Plätschern wird zum Rauschen. (07:30)
… alles fliesst, alles ist im Fluss, und der Fluss, er dringt durch das Land, er sucht sich seinen Weg mit einer Geduld, die uns unvorstellbar scheint, und während der Fluss wächst, wächst auch Kevin, oder Leon, oder Luca, und trotzdem wird er kleiner, immer kleiner, und wenn er jetzt einen Stein in den Fluss wirft, bemerken es die Amseln und Spatzen nicht einmal, es ist ihnen egal, und der Mäusebussard stürzt sich vom Himmel auf ein nahes Feld und greift sich eine kleine Wühlmaus oder einen Regenwurm und steigt wieder empor, und Kevin, oder Leon, oder Luca, er geht wieder nach Hause, er hat Hunger, und seine Mutter streicht ihm ein Butterbrot, Mutterbrot, während der Fluss unvermindert weiterfliesst, geduldig und stumm, der Nil fliesst durch Ruanda und Burundi und Tansania und Uganda, er fliesst durch den Sudan und kümmert sich nicht darum, ob der Südsudan nun zum Sudan gehört oder eine autonome Region oder ein unabhängiger Staat ist, der Nil fliesst einfach weiter, durch Ägypten und dann ins Meer, und der Amazonas, er fliesst durch Peru und der Grenze von Kolumbien entlang und dann ganz lang durch Brasilien, durch den grössten Regenwald der Welt, und während wir auf unseren Stühlen an unseren Tischen sitzen, Bücher in unsere Regale stellen oder in unseren Betten schlafen, fliesst der Amazonas einfach weiter, während die Motorsägen den Frieden und die Stille und noch viel mehr zerstören, und der Rhein, er findet seinen Anfang in Graubünden, der Tomasee ist die Quelle, das Fass, und die Tropfen, sie verbinden sich und fliessen durch das Land, alles fliesst, alles fliesst…
Das Rauschen wird lauter. (10:00)
… alles fliesst, und irgendwann erreicht der Rhein den Bodensee, ergiesst sich in ihn, breitet sich aus, wird weit und offen, und irgendwo am Ufer hockt Kevin, oder Leon, oder Luca, und er wirft einen Stein in den See, doch der See, er nimmt den Stein einfach in sich auf, lässt ihn auf den Grund hinabsinken, ein weiteres Geheimnis, das unter die Oberfläche dringt, ein weiterer Moment, der dem Lauf der Zeit zum Opfer fällt, und während Kevin, oder Leon, oder Luca, während also dieser kleine und vermeintlich unschuldige Junge auf die Stelle schaut, an welcher der Stein versank, bemerkt er, dass ein kühler Wind eingesetzt hat, er sieht sich um…
Das Rauschen schwillt weiter an. (10:50)
… und ahnt, dass wohl ein Sturm aufzieht, also steht er auf und geht rasch nach Hause, er friert, er hat Hunger, und seine Mutter streicht ihm ein Butterbrot, Mutterbrot, während draussen dunkle Wolken über den See eilen, und der Wind wird heftiger und schiebt das Wasser in Wellen voran, alles fliesst, alles fliesst…
Das Rauschen wird zum Tosen. (11:30)
… alles fliesst, das Wasser bäumt sich auf, alles rauscht, alles tobt, die Wellen, sie werden höher, die Welt wird laut, beinahe scheint es, als wäre sie eingetroffen, die letzte Eskalation, das Wasser tritt über die Ufer, und überall sieht man Signalleuchten, sie blinken in allen Richtungen, und Kevin, oder Leon, oder Luca, er steht am Fenster und blickt hinaus auf den See, und obwohl er doch gross und immer grösser wird, fühlt er sich seltsam klein, und er sehnt sich nach einem Eis, nach einem Erdbeereis, nach irgendetwas, das ihn tröstet, doch als ihm die Mutter eine kleine Schüssel mit Eis hinstellt, lässt er es einfach stehen, das Eis schmilzt, wird flüssig, während Kevin, oder Leon, oder Luca, aus dem Fenster schaut und darauf wartet, dass der Sturm aufhört und der See sich beruhigt, und tatsächlich, natürlich, irgendwann…
Das Rauschen ebbt ab. (12:50)
… lässt der Wind nach, die Wellen werden wieder berechenbarer und kleiner, der See wird ruhiger, die Bewegungen der Wellen werden harmonischer, alles fliesst, alles fliesst…
Das Rauschen hört nahezu ganz auf. (13:10)
… alles fliesst, und irgendwann gelangen die Wellen ans Ufer, auch hier, vor dem Kornhaus, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, er kommt an, prallt an die steinigen Grenzen, die wir dem See setzen, jeder Tropfen kommt hier an, steter Tropfen, sagt man, steter Tropfen, braucht so lange, braucht so viele, und dann, und dann, ja, was dann?
Stille. (14:00)

ich sollte mir angewöhnen, wenn es mir schlecht geht, etwas von dir zu lesen – echt großartig!
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Vielen lieben Dank (für das wunderbare Kompliment) und tut mir sehr leid (dass es dir schlecht geht/ging, ich hoffe, es geht mittlerweile wieder etwas besser) und herzliche Grüsse!
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ganz wundervoll, lieber Ralf!
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Vielen herzlichen Dank, liebe Bruni!
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