Der Vorhang flattert ein wenig. Das Fenster ist geöffnet, ein leichter Wind dringt hindurch, und darum bewegt sich der Vorhang. Ursache und Wirkung. Die Welt ist so einfach, denkt sie.
Tim ist gerade in die Küche gegangen, um Wein zu holen. Sie sollte eigentlich nicht hier sein, sie hat hier nichts zu suchen, sie hat hier nichts verloren, und sie weiß nicht, was sie hier finden will. An der Wand hängen Reproduktionen hinter Glas, ein Bild von Klimt, ein Bild von van Gogh. Diese Beliebigkeit, geht ihr durch den Kopf. Auf einem kleinen Tisch liegt ein Stapel Zeitschriften. Die oberste Zeitschrift liegt mit der Rückseite nach oben, man sieht eine Werbung für eine Hautcreme. Damit Sie so jung aussehen, wie Sie sich fühlen, steht da. Sie greift sich ans Gesicht, lässt die Fingerkuppen über die Haut gleiten. Das Lächeln schmeckt bitter.
Sieben Jahre sind vergangen, seit sich ihr Mann von ihr getrennt hat und mit seiner viel zu jungen Geliebten ein neues Leben beginnen wollte. Dass die junge Frau ihn nur wenige Monate später verließ, war abzusehen, und natürlich verspürte sie eine gewisse Genugtuung. Sie weiß nicht, ob sie es akzeptiert hätte, wenn er zu ihr hätte zurückkehren wollen. Doch er wollte nicht. Sie will sich einreden, dass ihr Stolz es nicht zugelassen hätte, wieder mit ihm zusammen zu sein, auch wenn sie nicht sicher ist, wie viel Stolz noch übriggeblieben war.
Dass sie hier ist, mutet wie ein Zufall an. Wahrscheinlich ist es auch einer, obschon sie gerne etwas anderes glauben würde. Sie traf Tim an einer Konferenz, er war einer der Referenten. Was er erzählte, war nicht sonderlich spannend, aber sie mochte ihn dennoch, mochte seine Stimme und sein Lächeln. Nach seinem Vortrag kamen sie ins Gespräch, redeten über die Konferenz, dann über die menschliche Natur, dann über das Alleinsein, warum auch immer. Er sagte, dass seine kleine Wohnung ganz in der Nähe liege. Sie blickte ihn an und erwiderte zunächst nichts. Jetzt kann sie sich nicht mehr daran erinnern, was sie in diesem Moment des Schweigens gedacht hat. Jedenfalls ist sie hier, in seiner kleinen Wohnung.
Es ist die Wohnung eines jungen Mannes. Natürlich ist sie das, denn er ist ein junger Mann, geschätzte zwanzig Jahre jünger als sie. Nur junge Männer heißen Tim, denkt sie. Als sie ihn während seines Referates beobachtete, überlegte sie, ob er ihrem zwanzig Jahre jüngeren Ich gefallen hätte, und kam zur Erkenntnis, dass er damals nicht ihr Typ gewesen wäre. Heute gefällt er ihr. Jetzt, an diesem späten Nachmittag, liebt sie ihn. Liebt zumindest die Jugend, die er sich noch hatte bewahren können.
Sie fragt sich, warum er sie in seine Wohnung eingeladen hat. Was hat er gedacht, als er mich berührte?, hört sie ihre Stimme in ihrem Kopf. Nimmt er häufig Frauen zu sich nach Hause? Auch ältere Frauen? Warum? Wie sieht seine Mutter aus? Müsste ich Angst haben? Ist er ein verrückter Spinner? Oder einfach einsam? War es ein Fehler? Und spielt es eine Rolle? Die Fragen rasseln und rattern zwischen ihren Ohren. Es klingt blechern, mechanisch, wie eine alte Maschine.
Ihre Nacktheit ist ihr seltsam unangenehm. Früher betrachtete sie ihren eigenen Körper mit einer zärtlichen Zuneigung, fühlte sie wohl darin, glaubte sich sicher. Aber das war ein anderer Körper. Jetzt wohnt sie in dieser eigentümlichen Hülle, auf welcher sich die Spuren der Zeit nicht mehr verwischen lassen. Was sie empfindet, ist nicht Scham. Es ist eher ein schlechtes Gewissen. Sie fragt sich, ob Tim eine Art Ekel verspürte, als er ihre faltige Hülle berührte. Und sie fragt sich, ob die Versäumnisse ihres Lebens sie dereinst krank machen werden.
Aus der Küche dringt ein Geräusch. Tim wird gleich in das Schlafzimmer zurückkehren, mit zwei Gläsern Wein in der Hand. Er wird sich neben sie setzen, mit seinem jungen und sehnigen Körper, wird ihr ein Glas reichen und mit ihr anstoßen wollen. Er wird lächeln und mit seiner Hand vielleicht ihren Oberschenkel streicheln. Sie wird ihm kurz in die Augen sehen und dann ihren Blick senken, wird seine Hand auf ihrem Oberschenkel so lange anstarren, bis er sie wegnimmt. Sie wird sich räuspern, einen Schluck Wein trinken, dann noch einen. Schließlich wird sie aufstehen, sich ankleiden und aus dem Fenster blicken. Ich muss gehen, wird sie sagen. Er wird nicken und einige Worte murmeln. Sie wird aus seiner Wohnung gehen und die Tür hinter sich schließen. Draußen vor dem Haus wird sie nach links und nach rechts schauen und einen Moment lang nicht wissen, in welche Richtung sie gehen soll. Doch dieser Moment wird von der Zeit fortgeweht werden, wie alle anderen auch. Danach wird sie losgehen. Alles andere ist unmöglich, denkt sie. Dann hört sie, wie Tim das Schlafzimmer betritt. Die Dielen knarren.
Der Vorhang flattert ein wenig. Das Fenster ist geöffnet, ein leichter Wind dringt hindurch, und darum bewegt sich der Vorhang. Ursache und Wirkung. Die Welt ist so einfach, denkt sie.

„Alles andere ist unmöglich.“ So unmöglich wie der Zufall, der sie zu Tim und dann in seine Wohnung gebracht hat? Manches ist nur deshalb unmöglich, weil wir nicht auf den Gedanken kommen…
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Der Zufall ist beinahe nie unmöglich, nicht wahr? Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken!
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Du heizt die Phantansie wunderbar an und lässt uns Leser dann einfach allein… 😉
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‚tschuldigung 😉
Und lieben Dank fürs Lesen!
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Tja, was wird sie gemacht haben, nachdem er wieder zurückkam?
Vielleicht gab es ein wundervolles Gespräch einer älteren attraktiven Frau mit einem jungen Mann, der endlich das gefunden hatte, was ihm fehlte, weil er nicht nur die Hülle sah …
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Ja, wer weiss, möglich und denkbar ist sehr vieles. Es wäre eine schöne Fortführung der Geschichte.
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse…
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Bestens ausgearbeitet, sorgfältig beschrieben wie das langsame Gift wirkt, das „älteren“ Frauen von den Medien eingeträufelt wird. Männer sind wie Wein, sie reifen. Frauen kriegen Falten. So einfach ist das? Mitnichten. Dennoch quälen sich Frauen oft mit einem anderen Verständnis für den alternden Körper als Männer, denn ihnen wurde Gift injiziert als sie noch kleine Mädchen waren. Ihnen wurde gesagt: Mach dich hübsch und such dir rechtzeitig einen Mann – wer will schon eine ausgeleierte Alte? Solche Sachen müssen kleine Mädchen hören. Wen wundert, dass sie gehen will? Verunsichert vom Begehren eines jüngeren Mannes, der theoretisch ihr Sohn sein könnte und im Wissen, dass der ehemalige Ehegatte sein junges Gesponst auch nur übergangsweise halten konnte. Hinter alledem, was steht denn da? Versicherungsschutz, Klammerdenken? Vollkaskoversicherte Liebe mit Rundumverwöhngarantie bis in alle Zukunft? Auch ein Teil der Giftlösung, die Frauen injiziert wird: Du brauchst doch einen Mann für die Zukunft.
Puh. Das hat es in sich, das ist ein Nervengift, das hat lähmenden Charakter, das verursacht Sprachlosigkeit, Verwirrung und Orierungslosigkeit.
Wie anders könnte es sein, wäre diese Frau eine selbst bewusste, die weiß, wie ihr Körper auf Männer wirkt und auf was für einen Schatz von Erfahrung sie mit jedem Jahr, das sie älter ist als er, mit einbringen kann? Vielleicht dann wäre sie in der Lage zu erkennen, was diesen viel jüngere Mann an ihr fasziniert: Ihren Zauber. So einen Zauber hat eine jüngere Frau nicht. Denn es ist ein praxisorientierter, traumbefeuerter und wissender. Um ihn zu entwickeln, braucht es Zeit und vor allem die Gewissheit, dass ein Körper nur eine Hülle ist, genau wie Du schreibst: eine Hülle. Das jedoch was sich darin befindet, ist von unsterblicher Qualität und es dehnt sich aus, je älter man wird.
Lieben Lesedank und viele Grüße aus dem Teuto von der Fee
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Ach, wie wunderbar weitergedacht und ausformuliert! Vielen lieben Dank schon nur für die Zeit und Mühe, die du diesen Worten geschenkt hast!
Die Idee zum Text kam mir beim Lesen einer Kurzgeschichte von Milan Kundera, wo das Zusammentreffen eines jüngeren Mannes und einer älteren Frau in einem anderen Kontext und vor allem aus dem männlichen Blickwinkel beschrieben ist, aber ebenfalls munter um das Altern und die Vergänglichkeit kreist. Ich denke, die von dir erwähnten Begriffe Sprachlosigkeit, Verwirrung und Orientierungslosigkeit passen sehr gut in diese Auseinandersetzung mit dem Altern und mit der Unmöglichkeit von etwas Ewigwährendem…
Vielen lieben Dank nochmals und herzliche Grüsse
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