(Ein E-Mail-Dialog zwischen Hanna und Simo. Der E-Mail-Dialog findet statt, als er und sie eine Zeit lang räumlich getrennt sind. Simo ist in Finnland, um sich vom Ferienhaus der Eltern zu verabschieden. Seine Freundin Hanna bleibt in der Schweiz. Er ist sieben Tage dort. In diesen sieben Tagen schreiben sie sich E-Mails.)
Simo schrieb am Freitag, 7. Juni:
Liebe Hanna
Dein Wunsch hat keine Wirkung gezeigt. Ich habe nicht gut geschlafen, eigentlich habe ich gar nicht geschlafen. Stattdessen bin ich mitten in der Nacht mit dem Ruderboot auf den See hinausgefahren. Es wird heute oder morgen abgeholt. Noch etwas, das ich loslassen muss.
Es war vollkommen still, draußen auf dem See. Der Mond hing tief über dem Wald auf der anderen Uferseite, die Spiegelung auf der Wasseroberfläche wirkte wie eine mittelmäßige Kopie. Alles, was ich hörte, war das Rauschen in meinen Ohren und das merkwürdige Pfeifen, von dem ich nicht weiß, ob es ein Tinnitus ist.
Du weißt nicht, welchen Weg du nehmen sollst. Ich verstehe das. Wenn ich dort neben dir bei der Weggabelung stehe, geht es mir ähnlich wie dir. Ich bin ebenfalls nicht sicher, welchen Weg ich nehmen soll. Einer davon ist ganz neu und unbekannt, ein Abenteuer vielleicht, der andere schon sehr vertraut, wie ein bequemer alter Mantel. Beide ziehen mich an, beide versuchen, mich mit Versprechungen zu locken. Einen von ihnen müsste ich alleine beschreiten, den anderen gemeinsam mit dir. Und letzte Nacht, draußen auf dem See, ist mir klargeworden, welchen Weg ich gehen möchte. Ich weiß nicht, ob es der richtige Weg ist. Aber ich will ihn gehen. Kommst du mit?
Hanna schrieb am Freitag, 7. Juni:
Lieber Simo
Ich bin gerade sehr dankbar. Dankbar dafür, dass du zwar ein weiteres Mal eine Frage stellst, doch schon mit dieser Frage eine Antwort gibst. Und eigentlich wollte ich im ersten Moment ein dickes JA! eintippen, in Großbuchstaben und mit Ausrufezeichen. Aber dann habe ich gezögert. Und zögere noch immer.
Auch wenn wir beide an der gleichen Weggabelung stehen und uns für die gleiche Richtung entscheiden, wird der weitere Weg dennoch nicht der gleiche sein wie bisher…
Du bist in Finnland und musst Abschied nehmen. Nicht nur von einem Haus, sondern auch von einem Teil deiner Identität. Du verlierst etwas, das sich nicht zurückgewinnen lässt, und was bleibt, ist eine Lücke, eine Leerstelle. Vielleicht ist dies auch bei uns der Fall. Vielleicht hat uns die Zeit immer wieder etwas entrissen und Leerstellen hinterlassen. Und vielleicht müssen wir sie akzeptieren, diese Leerstellen. Müssen sie annehmen und mittragen. Vielleicht ist man erst komplett mit den Dingen, die fehlen.
Morgen ist dein letzter Tag. Ich kann gut nachvollziehen, dass er nicht einfach werden wird. Aber womöglich kannst du ihn annehmen als das, was er ist. Ein Tag, der etwas zu deiner Geschichte hinzufügt. Und keiner, der etwas davon zerstört.
Schlaf gut, Simo.
(Der gesamte Dialog wurde im Rahmen der Finissage der Ausstellung Nordsicht #2 im Kunstraum Nextex in St.Gallen als Textinszenierung aufgeführt.)
*Vielleicht ist man erst komplett mit den Dingen, die fehlen*
Klingt ein bissel verrückt, aber ist es nicht das Leben selbst, das verückt ist?
Und wohin uns ein Weg führt, wissen wir immer erst dann, wenn wir ihn gehen…
Ich bin gespannt!
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Ist es wohl, ja, das Leben…
Dann viel Schönes und Wundervolles dir auf den weiteren Wegen, und herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni…
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