Bisweilen befreit sie sich von diesem Körper, zieht ihn aus wie eine Taucherin ihren Neoprenanzug, hängt ihn an den Haken und muss sich zunächst daran gewöhnen, dass ihr Inneres freigelegt ist. Meistens legt sie sich dann ins Bett, deckt sich zu und wartet, bis sie in den Schlaf gleitet. Dort ist sie sicher.
Eigentlich ist es ein schöner Körper. Sie hört diese Aussage relativ häufig, zumeist von Männern, die diesen Körper, ihren Körper benutzen. Sie ist längst nicht mehr erstaunt darüber, den Begriff benutzen zu denken, und sie hat aufgehört, zu widersprechen, wenn jemand ihren Körper als schön bezeichnet. Sie kann es nicht beurteilen, hat keine Argumente und fühlt sich seltsam ratlos, also akzeptiert sie es mit zuckenden Schultern.
Sie versucht, nicht allzu häufig über diesen Körper nachzudenken, dieser Körper ist eben da, und sie muss sich damit abfinden. Nicht immer gelingt es, die Gedanken an diesen Körper zu verhindern. Wenn sie dann jeweils scheitert, verspürt sie einen leichten Schwindel und muss sich festhalten, um nicht umzufallen. Beim Nachdenken über diesen Körper ist das Unwohlsein kaum zu vermeiden. Ihr fällt auf, wie häufig sie friert, sogar im Sommer; dieser Körper scheint ihr keine Wärme geben zu können. Sie zittert, sie hat Hühnerhaut, und das Frieren hört erst auf, nachdem sie sich ausgezogen hat und unter der Bettdecke liegt.
Eines Nachts erwacht sie und hat schrecklichen Durst. Sie knipst die kleine Lampe neben dem Bett an, blickt kurz auf den nahezu fremden Mann, der neben ihr schläft, und geht dann in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Sie bleibt einige Minuten dort, setzt sich auf den kleinen roten Hocker, nippt an ihrem Glas und mustert die Gegenstände in der Küche; den Wasserhahn, die Abwaschbürste, die Gläser auf dem Abtropfgestell, die kleine Kaffeemaschine, die leere Weinflasche. Schließlich geht sie zurück ins Schlafzimmer, doch an der Tür erschrickt sie heftig und bleibt abrupt stehen. Der Mann, der zuvor noch neben ihr geschlafen hat, ist nun äußerst wach. Mit zuckenden Bewegungen benutzt er diesen Körper, ihren Körper, den sie offenbar im Bett vergessen hat, als sie in die Küche ging. Sie kann sich kaum bewegen, hält immer wieder den Atem an, das Schwindelgefühl kommt in Wellen. Sie will protestieren, doch jedes Wort bleibt quer im Hals hängen und dringt nicht nach außen. Nach wenigen Minuten ist der Mann fertig, rollt sich mit einem letzten Stöhnen von diesem Körper weg und schläft alsbald wieder ein.
Vorsichtig und schwankend nähert sie sich dem Bett, blickt auf diesen Körper, der ungerührt daliegt, beinahe betäubt wirkt und unerträglich traurig aussieht. Sie starrt ihn an, minutenlang, während ihre Augen allmählich austrocknen. Dann beginnt sie, diesen Körper wieder anzuziehen, still und langsam. Sie schleicht ins Wohnzimmer, setzt sich auf den Teppich vor der Couch, noch immer schockiert vom Anblick im Schlafzimmer. Und dort, auf dem Teppich vor der Couch, während draußen vor dem Fenster langsam ein neuer Tag erwacht, beschließt sie, diesen Körper zurückzuerobern. Es wird nicht einfach werden, das weiß sie. Aber sie will es versuchen, sie muss es versuchen; so wie es ist, hält sie es kaum mehr aus. Und eigentlich ist es ja ein schöner Körper.

Das Ende Deiner Geschichte gefällt mir. Diese Frau wacht auf und vielleicht lässt sie nicht mehr zu, dass ihr Geist flieht, während er still duldet, was dem Körper währenddessen zustößt. Das erfordert Kraft, nicht nur Aufwachen. Ich wünsche mir, dass die Dame gerne liest und vielleicht trifft sie einen Mann, der ihr ein Buch empfiehlt: Mithu M. Sanyal, das ihr ihr unsichtbares Geschlecht enthüllt und sie versteht, warum sie sich hat benutzen lassen wie ein Möbelstück, eine Matratze, zum Beispiel. Viele liebe Grüße und Dank für den Lesegenuss von Stefanie
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Das Aufwachen kann ja – in diesem und so vielen Fällen – nur ein Ende/Anfang sein…Und ja, es ist zu hoffen, dass das Dulden aufhört, unbedingt…
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und besonderen Dank für den Buchtipp! Liebe Grüsse zurück…
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… macht mich traurig, was du hier schreibst…
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…mich auch, lieber Finbar…
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Das dachte ich mir, lieber Schreibfreund…
Hab einen schönen Tag!
Liebe Wintergrüße vom Lu
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Dir ebenfalls einen schönen, warmkalten Tag… Herzliche Grüsse zurück!
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aber sie wird sich zurückerobern, den Körper zur Seele, denn beides ist eins. Fehlt dem einen das andere, friert das, was sich nach dem anderen sehnt .
So will sie es nicht mehr und was sie sich vornahm, das wird auch gelingen
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Das ist zu hoffen, immer wieder… Wunderbar beschrieben, liebe Bruni, herzlichen Dank dafür und fürs Lesen… Beste Grüsse!
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