Womöglich ist es gar nicht tot. Da ist kalte Angst in den Augen, und wer Angst hat, ist nicht tot.
Man kennt es nicht, das Mädchen. Das weiße Kleid, das schwarze Haar, die Gesichtszüge, die Körperhaltung, alles an ihm ist fremd. Auch die Welt, die Umgebung, die wenigen Eckpunkte des Umlandes, die sich bieten, scheinen ungesehen und unbekannt. Das Mädchen geht langsam und nahezu mechanisch durch das hohe Gras, bisweilen streifen die Fingerkuppen einige Halme. Ab und an schreit eine Krähe in der Ferne, irgendwo spielt jemand auf einem verstimmten Klavier, und wenn die akustischen Brechungen ausbleiben, füllt ein körperloses Brummen die Luft.
Das weiße Kleid führt in die Irre. Das Mädchen, es trägt keine Unschuld mehr in sich; jede kleinste Regung erzählt von deren Verlust, erzählt von Verrat. Und immer wieder der Eindruck, dass es tot ist, nur noch eine leere Hülle. Die Situation, sie ist vollkommen zeitlos, befreit von Vergangenheit und Zukunft, und dennoch muss ihr eine Geschichte innewohnen. Was ist geschehen? Warum biegen sich Gräser und Halme, aber man spürt keinen Wind? Warum hört man ein Klavier, aber keine Melodie?
Wenn sein Blick zu Boden fällt, wirken die Augen des Mädchens starr und matt, erfüllt von unermesslicher Traurigkeit. Sobald der Blick in die Ferne flieht, tritt die Angst hervor, eine panische Angst von erschreckender Intensität. Wovor fürchtet es sich? Was hat es überhaupt noch zu befürchten, wo es doch tot ist? Ist man selbst ebenfalls betroffen von jener Bedrohung, die dem Mädchen die Angst ins Gesicht treibt? Und überhaupt, welche Rolle spielt man, warum beobachtet man das Mädchen? Warum ist man Betrachter? Und ist man womöglich mehr als das?
Das Mädchen starrt in die Ferne. Die Augen sind groß und reglos, wie blinde Fenster. Mit jeder Sekunde scheint die Angst größer zu werden, der Horror lähmender, alles verkrampft sich. Und dann, ohne Vorwarnung, ohne sichtbaren Anlass, entspannen sich die Gesichtszüge des Mädchens. Die Haut wird hart und glatt, die Augen erfrieren in den Höhlen, die Schultern sacken ab. Diese Verwandlung, sie hat etwas Endgültiges, ein haltloses Ankommen. Und erst jetzt, nach dieser Verwandlung, blickt man dorthin, wo das Mädchen hinsah. Einen Moment lang spürt man, wie der Kopf ganz leicht zur Seite kippt, da ist ein Zerren im Halsmuskel. Und falls man etwas erkennt, falls dort tatsächlich etwas ist, so vergisst man es sogleich. Und erwacht.
Ein Albtraum, ein Angsttraum, ein beklemmender Angst einflössender Traum, der einen Teil der Wirklichkeit spiegelt…, den es nicht geben sollte…
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Ja, man hofft doch stets, dass man derartiges Unbehagen von der Wirklichkeit fernhalten kann… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni…
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Was für eine beklemmende Intensität! Toller Text!
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Vielen lieben Dank dir, fürs Lesen und für deine Worte!
Herzliche Grüsse…
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Verstimmtes Klavier macht schön schräge Atmosphäre.
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Schräge Atmosphäre ist manchmal nur so mittelschön… Danke dir fürs Lesen!
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wie immer, genial und packend geschrieben. In deinen Texten erlebt man selbst, man ist nicht Leser, sonder Beteiligter. Sehr schön! 🙂
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Oh, vielen lieben Dank! Fürs Lesen, fürs Beteiligtsein und für die Worte!
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Diesen Eindruck kann ich nur bestätigen! 🙂
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Vielen herzlichen Dank, lieber Finbar!
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Dir einen schönen Tag wünsche, lieber Disputnik!
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Dir ebenfalls, lieber Finbar!
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