(Eine Kindergeschichte. Für das wunderbare Buchprojekt «Wenn Wurzeln Flügel tragen».)
Jori ist jeden Tag einen Tag älter als gestern, er kann trinken, während er einen Handstand macht, und er weiß, wie man mit einer Lupe und einem Stück Papier ein Feuer entfachen kann. Jori weiß nicht alles, aber eine Menge, und wenn er etwas nicht weiß, dann fragt er und sucht nach dem Warum. Jori hat noch jedes Warum gefunden. Und wenn man es findet, löst sich das Warum auf und wird zum Darum.
Als er sich fragt, warum der Himmel blau ist, erklärt ihm sein Vater, dass das weisse Sonnenlicht aus ganz vielen Farben besteht, und wenn es durch die Atmosphäre scheint, welche die Erde umgibt, werden die blauen Teile des Lichts in alle Richtungen verstreut, wodurch eben der Eindruck entsteht, dass der Himmel blau ist.
Als Jori wissen will, warum die Sterne am Himmel nicht immer ruhig leuchten, sondern manchmal funkeln, sagt die Mutter, dass das Licht der Sterne auf dem Weg zu uns in der Atmosphäre von Winden sowie warmen und kalten Strömungen immer wieder abgelenkt wird, was unten auf der Erde als Flimmern wahrgenommen wird.
Die Frage, warum denn die Bananen krumm sind, beantwortet ihm die Grossmutter, und nun weiß auch Jori, dass sie zunächst zum Boden hin wachsen, weil sie von den grossen Bananenblätter verdeckt werden, doch dann, nachdem die Blätter abgefallen sind, ändern die Bananen beim Wachsen die Richtung und strecken sich nach dem Sonnenlicht.
Warum haben die Fische Schuppen? Um sich gegen Verletzungen zu schützen. Warum hat der Käse Löcher? Weil bei der Käseherstellung Kohledioxid entsteht, das sich in Blasen sammelt, die später zu den bekannten Löchern werden. Warum sehen wir zuerst den Blitz und hören erst dann den Donner? Weil das Licht viel schneller unterwegs ist als der Schall. Für jedes Warum, das Jori in den Sinn kommt, finden sein Vater, seine Mutter, die Grossmutter oder der Grossvater eine Antwort.
Eben. Jori hat noch jedes Warum gefunden, damit daraus ein Darum wird. Doch nun steht er ratlos in seinem Zimmer und schaut ganz traurig auf den hellen Holzboden. Natürlich findet er auch dort keine Antwort auf die Frage nach diesem einen Warum, diesem so grossen und fürchterlichen Warum.
Vor einigen Tagen sind sein Vater und seine Mutter in sein Zimmer gekommen, haben ihn ganz traurig angesehen und gesagt, sie müssten mit ihm reden. Dann haben sie Jori erzählt, dass sie sich trennen. Dass der Vater auszieht und Jori bei der Mutter bleibt. Dass er den Vater aber immer sehen kann, wenn er will. Und Jori hat gefragt, warum sie sich trennen. Zuerst ganz leise, dann laut und immer lauter. Irgendwann hat Jori geschrien, und das Warum ist so gross geworden wie die ganze Welt. Doch sein Vater, er hat keine Antwort gewusst. Die Mutter auch nicht. Irgendwann hat Jori die Grossmutter gefragt, doch die hat immer nur geweint.
Die Tage vergehen, und das grosse Warum ist immer da. Jori versteht seine Eltern nicht. Immer wieder fragt er nach dem Warum, doch weder sein Vater noch seine Mutter können dieses Mal eine Antwort geben. Das macht ihn traurig. Dann macht es ihn wütend. Dann wird er wieder traurig, noch trauriger als zuvor. Dann wieder wütend, noch wütender als zuvor.
An einem viel zu warmen und viel zu sonnigen Sonntag sitzt Jori auf der Schaukel vor dem Haus, als Anna auftaucht und sich neben ihn auf die zweite Schaukel setzt. Anna wohnt im Nachbarhaus. Sie ist drei oder vier Jahre älter, aber sie ist ziemlich nett, findet Jori.
«Was ist los?» fragt Anna, denn sie merkt schnell, wenn jemand traurig oder wütend ist, und Jori ist beides.
«Ich bin traurig und wütend», sagt Jori leise.
«Das weiß ich. Aber warum bist du traurig und wütend?»
Zuerst will Jori nichts sagen. Er schämt sich irgendwie, und weil er so traurig und wütend ist, glaubt er, dass seine Stimme merkwürdig klingt. Doch dann beginnt er trotzdem zu reden, erzählt von seinen Eltern und vom grossen Warum, zu dem er kein Darum findet.
«Ich verstehe», sagt Anna, und Jori schüttelt den Kopf.
«Nein, du verstehst bestimmt nicht.»
«Doch, ich verstehe. Meine Eltern sind auch getrennt. Sie sind geschieden. Mein Vater hat jetzt eine neue Frau. Und meine Mutter hat einen Freund.»
«Oh. Und haben sie dir erklärt, warum sie sich trennen?» will Jori wissen.
«Nein. Oder doch, ja. Irgendwie. Sie haben gesagt, dass sie sich nicht mehr so sehr leiden mögen. Sie haben sehr viel gestritten, immer wieder. Manchmal haben sie sogar das Geschirr kaputt gemacht, weil die Stimmen nicht laut genug waren. Irgendwann ist mein Vater dann ausgezogen. Seither sehen sie sich nur noch selten. Aber dafür streiten sie nicht mehr.»
Jori bewundert Anna, dass sie so ruhig erzählt. «Ist das nicht komisch? Wenn der Vater nicht mehr zu Hause wohnt, meine ich. Und wenn er eine neue Frau hat und die Mutter einen neuen Freund.»
«Das war ja am Anfang noch nicht so. Damals war es viel blöder. Ich habe oft geweint und war wütend auf meine Eltern. Einmal bin ich sogar von zu Hause weggelaufen und habe mich bei einer Freundin im Keller versteckt. Doch sie haben mich gefunden. Ich habe immer wieder gefragt, warum sie das machen. Warum sie sich trennen. Sie haben nie richtig antworten können. Einmal hat meine Mutter aber etwas gesagt. Das war sehr schön.»
«Was denn», fragt Jori neugierig.
«Sie hat gesagt, dass mein Vater und sie sich nicht mehr lieben. Ich hab dann gefragt, ob sie mich noch lieben. Da hat meine Mutter gesagt, dass sie und auch mein Vater mich gar nicht nicht lieben können. Ich habe nicht sofort verstanden, was sie damit meint, dass sie mich gar nicht nicht lieben können. Sie hat dann lange erklärt, und mittlerweile verstehe ich es. Glaube ich.»
«Was hat sie denn gemeint?»
«Dass sie mich immer lieben werden, ganz egal, was passiert. Und dass sich manche Dinge, die passieren, nicht erklären lassen. Dass es manchmal kein Darum gibt, sondern nur ein grosses Warum.»
«Geht das irgendwann weg, das grosse Warum?» flüstert Jori und starrt auf seine Füsse.
«Nicht ganz, aber fast. Es wird kleiner mit der Zeit, und es tut nicht mehr so weh. Bist du schon mal hingefallen, dass die Knie bluteten?» fragt Anna.
«Ja, schon ganz oft.»
«Zuerst blutet es, oder? Dann trocknet das Blut und wird zu Schorf. Irgendwann löst sich der Schorf. Darunter ist frische Haut. Die ist am Anfang ganz dünn und empfindlich. Mit der Zeit wird sie immer dicker. Bis man schliesslich fast nicht mehr sieht, wo die Wunde war.»
Jori nickt, sagt aber nichts. Anna redet weiter. «Mit dem grossen Warum ist es ähnlich. Es braucht Zeit, bis die Wunde heilt. Man kann sie nicht einfach reparieren. Und was man auch tut, man kann sie nicht ungeschehen machen.»
«Ich hätte lieber hundert Mal ein blutiges Knie als dieses grosse Warum», findet Jori.
Anna nickt. «Ja, ich weiß. Es ist ja auch nicht dasselbe. Wahrscheinlich kann man es einfach nicht erklären.»
Dann sitzen sie da, auf ihren Schaukeln, an diesem viel zu warmen und viel zu sonnigen Sonntag, schauen manchmal auf den Boden und dann wieder hinauf zum wolkenlosen Himmel.
«Weißt du, warum der Himmel blau ist?» fragt Jori schliesslich ganz leise. Anna sagt nichts, und Jori beginnt zu erklären, dass das weisse Sonnenlicht aus ganz vielen Farben besteht, und wenn es durch die Atmosphäre scheint, welche die Erde umgibt, werden die blauen Teile des Lichts in alle Richtungen verstreut, wodurch eben der Eindruck entsteht, dass der Himmel blau ist. Dann erzählt Jori von den Bananen und von den Löchern im Käse, vom Blitz und vom Donner. Und irgendwann wird es Abend, irgendwann gehen sie nach Hause, irgendwann geht der Tag vorbei, und Jori ist wieder einen Tag älter als gestern.

Diese Geschichte entstand als Beitrag zur wunderbaren Anthologie «Wenn Wurzeln Flügel tragen» von Tristan Rosenkranz. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an Tristan für die Möglichkeit und die Ehre, Teil des Buchprojekts sein zu dürfen.
«Wenn Wurzeln Flügel tragen» ist ein Hoffnungsbuch für Kinder und ihre Eltern. Es beinhaltet Geschichten, die das Fehlen von wichtigen Familienmitgliedern aufgreifen und mit viel Einfühlungsvermögen und Hoffnung erzählen, dass es immer einen Lichtblick gibt. «Wenn Wurzeln Flügel tragen» verwandelt Traurigkeit in Zuversicht, dass es in uns und auch in unserem Leben immer Wege geben wird, welche die Kinder gedanklich oder durch kleine Inseln gemeinsamer Zeit nah beim fehlenden Papa, der abwesenden Mama oder den Großeltern sein lassen.
Die Anthologie ist ein Projekt für die gemeinnützige Initiative Gleichmaß e.V. und ist im Telescope-Verlag erschienen.
Mehr dazu bei Tristan Rosenkranz.
Wenn Wurzeln Flügel tragen
Telescope-Verlag
ISBN 978-3-95915-017-0
Preis 12€
Ich habe dir ja hierzu schon mehrfach geschrieben…
Soooooo schöööön 🙂
Liebe Frühlingsgrüße vom Finbar
LikeGefällt 1 Person
Die Freude und Begeisterung ist ja vice versa… Es ist schön, dass wir uns in diesem Buch begegnen, lieber Finbar…
Herzliche Grüsse zurück…
LikeGefällt 1 Person
Ja, zauberhaft ist das!!
LikeGefällt 2 Personen
Eine wunderschöne Geschichte hast Du beigesteuert, lieber Disputnik.
Die vielen Warums und viele Darums sind wichtig für unsere Kleinen und für uns Große swelbstverdtändlich auch.
Manchmal kann man/frau etwas nicht erklären, weil passende Worte fehlen, aber da ist das Fühlen, daß das Darum im Warum irgendwie schon enthalten sein muß…
LikeGefällt 1 Person
…und manchmal fehlen vielleicht nicht nur die passenden Worte, sondern auch die passenden Gefühle, man/frau/kind taumelt. Dann mag’s helfen, wenn man nicht alleine ist; man fällt weniger schnell hin, findet eher einen Halt… Vielen Dank fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni… Herzliche Grüsse und ein schönes Wochenende dir…
LikeGefällt 2 Personen
Wunderschön erzählter Text! Ich mag den offenen Umgang dieser Kinder mit ihren Gefühlen von Trauer und Wut.
Allerdings scheinen mir die Reflexionen der beiden Kinder über das unerlöste Warum schon sehr erwachsen zu sein. Viele Kinder haben Mühe, in solchen Situationen mit dem offenen Warum umzugehen und lösen es bewusst oder unbewusst in der ihnen eigenen egozentrischen Weise auf. Sprich: Ich bin schuld daran, oder habe es zumindest nicht geschafft, es zu verhindern. Eine unselige Quelle von Ohnmachts- und Schuldgefühlen, die oft unbemerkt bleiben. Sie wollen ja nicht noch mehr kaputt machen. Und viele Eltern sind noch so froh, dass ihre Kinder scheinbar „so gut“ damit umgehen.
LikeGefällt 1 Person
Ja, absolut, dieses Tragen von Schuld, das scheinbar unbewusste Übernehmen einer Art Verantwortung sind in solchen Situationen wohl relativ häufig; und relativ schwierig festzustellen, weil die Artikulation dieser Gefühle nicht leicht fällt… Vielen lieben Dank für dein Lesen und für deine Gedanken zum Thema! Herzliche Grüsse…
LikeGefällt 2 Personen
Ich konnte doch nicht länger warten, auch wenn sich das Warten gelohnt hätte (hat es sich auch bis jetzt). Berührend. Warm. Schön. Die vielen Warum’s, sie sind schön, auch wenn manchmal die passenden Antworten fehlen. Sie sollen täglich mit dem Warum kommen. Und sie werden täglich einen Tag älter als gestern und sie beantworten sich täglich ein Warum mehr selber. Die Welt, sie ist voller Fragen. Und voller Anworten. Doch manchmal findet man das zusammen gehörende nicht. Ein ganzes geht auseinander und die Einzelteile lassen sich nicht mehr zusammen fügen. Unser Ganzes soll so bleiben. Es sollen Teile dazu kommen, dort wo sie sich an das Ganze anfügen lassen. Und es soll viele Warum’s im Ganzen geben, viele Darum’s und ein paar Dinge, die sich nicht erklären lassen. Es soll keine Einzelteile im Ganzen liegen, an denen man sich schneidet. Und wieso es für sie dieses eine Warum nicht geben wird? Darum. Wieso ich dich liebe? Darum.
LikeGefällt 4 Personen
Ja, die Welt ist voller Fragen, voller Antworten, voller Warums und Darums. Und dazwischen sind wir, ganz und gar fraglos, unsere Liebe ist die Antwort.
Danke. Für deine Worte. Für unser Lieben. Für unser Leben.
LikeGefällt 3 Personen
Eine sehr schöne Geschichte zu dem Zeitpunkt, wenn die Antworten ein Warum nicht länger erklären können und die Kindheit plötzlich fundamental in ihren Rückhalten einzureißen droht und zu bleiben nur der Trost des Wissens droht…
Die Darums des Lebens annehmen zu können, ohne deswegen traurig und wütend zu sein, ist ein Schlüsselmoment, der das Herz sowohl befreien als auch einkerkern kann. Wie ein kleiner freundschaftlicher Lichtblick erkannt werden kann, indem er das Himmelblau erklärt und weitergibt, erzählt Deine feinfühlige Geschichte.
Lieben Gruß und Dank, auch an den Initiator und Organisator des wunderbaren Anthologieprojektes, Tristan Rosenkranz,
von der Karfunkelfee
LikeGefällt 4 Personen
Dankeschön und liebe Grüße! 🙂
LikeGefällt 1 Person
Vielen Dank dir! Ja, akzeptieren und die Darums annehmen zu können ist wohl elementar, aber ebenso die Wut und die Traurigkeit, die ev. wichtige Ventile sein können…
Herzlichen Dank nochmals, liebe Karfunkelfee, und beste Grüsse zurück…
LikeGefällt 3 Personen
Hat dies auf rgmontheway rebloggt.
LikeGefällt 1 Person
Danke!
LikeLike
Auch von mir ein Dankeschön.
LikeGefällt 1 Person
Ich bin Dir sehr dankbar, mit diesem sensiblen, berührenden Texte Teil des Buches zu sein.
LikeGefällt 2 Personen
Und ich bedanke mich nochmals herzlich für die Möglichkeit und dein Engagement…
LikeGefällt 2 Personen
Sehr gern 🙂
LikeLike