Sie war Witwe geworden, lange bevor sie Großmutter wurde, und heute fragt sie sich, ob die Witwe und die Großmutter wohl die Frau in ihr vertrieben haben. Sie schaut einmal pro Monat Die Reifeprüfung, obwohl sie den Film gar nicht sonderlich mag. Ihre Tochter versichert ihr manchmal, sie sehe gut aus für ihr Alter, und natürlich geschieht es in bester Absicht. Trotzdem ist da dieser Stich, ein Stich in eine wuchernde Wunde. Manchmal blättert sie in Magazinen und betrachtet Fotos von Frauen in ihrem Alter, die sich nackt oder in lasziven Posen zeigen und beweisen, dass man selbst in diesem Alter noch verdammt erotisch aussehen kann und dass sie sich und ihre verführerische Seite nicht zu verstecken brauchen, und häufig schleudert sie das Magazin dann ziemlich energisch auf den Tisch oder zu Boden. Sie steht auf, stellt sich vor den Spiegel, zieht sich vollständig aus und schaut zu, wie der Körper vor ihr unweigerlich zittert und bebt, wie die Flächen und Konturen sich dehnen und zusammenziehen und allmählich verschwimmen.
Sie duscht sehr lange und trocknet sich ab, trägt behutsam Creme auf ihre Haut auf. Als sie die neue Unterwäsche und die Strümpfe anzieht, stellt sie sich vor, sie stünde für einen Film vor der Kamera. Das neue Kleid ist relativ eng, aber sitzt perfekt. Ihre Hände gleiten über diesen Körper, den sie noch immer nicht richtig einzuschätzen weiß. Sie schminkt sich dezent, trägt ihr teuerstes Parfum auf und geht aus dem Haus, hinein in die beginnende Nacht in der Stadt.
Die Lichter zucken aufgeregt, die Musik ist ihr vollkommen fremd und viel zu laut, die Menschen sind zu betrunken und zu jung. Sie versucht zu tanzen, doch immer wieder gerät sie aus dem Takt. Nach dem dritten Wodka Orange geht es besser, aber noch lange nicht gut. Sie stellt sich in eine dunkle Ecke, lehnt sich seitlich an eine Säule und beobachtet die Menschen. Irgendwann wird sie angesprochen, zu einem Drink eingeladen, doch sie schüttelt nur den Kopf und zuckt mit den Schultern. Schließlich verlässt sie den Club. Vor der Eingangstür unter einer Straßenlaterne steht ein junger Mann, raucht eine Zigarette, allein und wunderschön. Sie verharrt kurz, mustert ihn, lächelt wohl sogar ein wenig. Womöglich lähmt der Alkohol ihre übliche Schüchternheit. Jedenfalls atmet sie tief ein und geht zu ihm hin, fragt ihn, ob er eine Zigarette entbehren könnte. Er nickt und lächelt, seine Augen öffnen sich ein wenig weiter. Dann stehen sie da, rauchend und schweigend, wie Denkmäler, aus der Zeit gefallen. Irgendwann blickt er sie an und sagt, sie sei eine sehr schöne Frau. Sie zuckt zusammen und schaut sich kurz um. Irgendwo verschwinden eine Großmutter und eine Witwe hinter einer Ecke. Dann gehen sie los, sie und der junge Mann, gehen nebeneinander her, bis sie von der Dunkelheit der kühlen Nacht umhüllt werden.

Ein sehr liebevoller Text…
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Vielen lieben Dank dir!
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Gern 🙂
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Tja, lieber Disputnik,
warum gibt es bloß so viele Frauen, die sich (fast ausschließlich) über ihr Aussehen, ihren Körper, ihre Wirkung auf Männer usw. usf. „definieren“…
du beschreibst das alles ja wieder mal so perfekt.
ICH finde das sehr schade, weil genau das immer weher tut, je älter frau wird…
und ICH finde, dass das nicht sein sollte,
denn: das Leben, das für MICH SELBST gelebte Leben, ist auch ohne all diesen Schnickschnack sehr sehr schön, egal wie alt ich bin…
und:
warum immer um die Gunst anderer buhlen?!
Ich bin doch auch so sehr viel mehr wert,
als alle anderen Menschen jemals ahnen können!
Liebe Morgengrüße
vom Finbar
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Ich glaube, dieses Streben nach Gunst und Anerkennung anderer ist ziemlich verbreitet, ganz egal, ob nun bei Frauen oder Männern, durch das Aussehen, beruflichen Erfolg, Likes auf Facebook oder dergleichen… Aber ja, am Ende des Tages steht man dann doch allein vor dem Spiegel…
Vielen Dank dir, lieber Finbar, für dein Lesen und deine Worte. Und ganz herzliche Grüsse zurück…
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Ja, sicher, lieber Disputnik, aber welch Wahnsinn! Welche Mengen an Lebensenergie in diesen Humbug investiert werden, letzten Endes für die allermeisten völlig sinnlos!
Wie viel sinnvolles könnte der Mensch stattdessen tun! Für SICH, und nicht für die anderen!
Mrs. Robinson sollte KEIN Vorbild sein!
Uff, sorry, das waren nun fast zuuu viele Ausrufezeichen…
Liebe Herbstgrüße
Finbar
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Na, die Ausrufezeichen haben ja durchaus ihre Berechtigung, der Wahnsinn ist oftmals allzu deutlich…
Was angenehm ist; wenn man Dinge tun kann, die schön und/oder gut für andere und für sich selbst zugleich sind.
Lieben Dank für deine Gedanken und die Ausrufezeichen, und herzliche Herbstgrüsse zurück…
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Wenn da eine Balance gefunden wird, die passt und nur geringfügig nervt, dann ja!
Aber, lieber Disputnik, wo findest du denn heutzutage noch Ausbalanciertes?
Weder in der Welt der Globalisierung, noch in der Welt des Lokalen…
Die Welt ist aus dem Lot geraten…
Save your Day,
Finbar
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Vielleicht ist es schon mal gut, wenn’s im Kleinen in einem Gleichgewicht bleibt… Und war denn die Welt tatsächlich jemals im Lot?
Liebe Grüsse und schönes Wochenende dir, lieber Finbar…
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Da hast du auch wieder recht, nehme ich an…
Aber leben tu ich eben im hier und jetzt, nur das kann ich selbst einigermaßen beurteilen…
Dir ein schönes Wochenende wünsche, herzlich, Finbar
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