Eselsohren sind ihm verhasst. Es widerstrebt ihm, die Buchseiten zu knicken, sie dadurch zu verunstalten. Umso mehr mag er Buchzeichen. Hin und wieder sind es vollkommen banale Zettel ohne Wert, mit denen er die Stelle im Buch markiert, an welcher er die Lektüre unterbricht. Doch häufig erzählen die Buchzeichen ihre ganz eigene Geschichte. Manchmal sind es alte Postkarten, manchmal Theaterkarten, manchmal vergilbte Fotos. Sie sind zufällig da, wenn er ein Buch zu lesen beginnt, und nach der letzten Seite bleiben sie dort, in jenem Buch. Jahre später, wenn er das Buch erneut lesen will, fällt ihm ein früheres Buchzeichen in die Hände. Und damit auch die frühere Zeit.
Als er Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins aus dem Regal zieht, um das Buch ein weiteres Mal zu lesen, tut er es nur halbherzig. Er hat eigentlich gar keine allzu große Lust auf Kunderas Roman. Er lässt den Daumen über den Rand der Seiten gleiten, blättert zur Mitte des Buches und zum Ende, bis irgendwann ein kleiner Zettel aus dem Buch fällt. Mit einer gewissen Vorfreude hebt er das Buchzeichen auf, gespannt und neugierig, worum es sich handelt.
Zunächst ist er verblüfft, dass er eine Tageskarte der Verkehrsgesellschaft der Stadt Prag in den Fingern hält, schließlich spielt der Roman in weiten Teilen in der tschechischen Hauptstadt. Einige Augenblicke lang taumelt er zwischen Gedankengängen, hängt in den Seilen seines Gehirns. Dann räuspert er sich, bleibt aber irritiert. Er wendet das Buch, wiegt es in seinen Händen, riecht sogar daran. Es ist sein Buch, er hat es bestimmt schon drei oder vier Mal gelesen. Doch er war noch nie in Prag.
Auf den ersten Seiten des Buches muss er sich jede Zeile erarbeiten. Immer wieder stolpern die Augen auf ungewohnte Weise über die Wörter, gerade so, als wäre er im Lesen ein verunsicherter Anfänger. Tatsächlich aber sind es die Gedanken an das Buchzeichen, die sich der Lektüre beständig in den Weg stellen. Während sich im ersten Teil des Romans unter anderem die Frage stellt, was man wählen soll, das Schwere oder das Leichte, fragt er sich, wie die Tageskarte der Verkehrsgesellschaft der Stadt Prag in sein Buch gelangen konnte.
Wiederholt ertappt er sich dabei, wie er Sätze drei oder vier Mal lesen muss, bevor er ihre Aussagen so weit begreift, um fortzufahren. Er versucht, sich auf die Schilderungen zu konzentrieren, mit denen sich Milan Kundera seinen Protagonisten Tomas und Teresa nähert. Doch kaum gelingt es ihm, sich an den geschriebenen Worten festzuhalten, wird er wieder fortgerissen, hin zur Tageskarte. Er betrachtet sie, mustert sie genau. Da ist kein Datum aufgedruckt, das dafür vorgesehene Feld ist leer, offensichtlich wurde das Ticket nicht abgestempelt.
Er glaubt sich zu erinnern, dass seine damalige Freundin das Buch einst zu einem Kurzurlaub mitgenommen hatte. Mit einer Arbeitskollegin war sie damals für eine knappe Woche nach Wien gereist. Er kannte diese Arbeitskollegin nicht wirklich, hat ihren Namen längst vergessen, auch hatte seine Freundin weder eine Postkarte aus Wien geschrieben noch Fotos gemacht, doch er hatte sich diesbezüglich keine Gedanken gemacht und wahrscheinlich auch kein allzu großes Interesse gezeigt. Dieses Desinteresse war wohl einer der Gründe, warum die Beziehung schließlich endete.
Während er auf dem Balkon steht und eine Zigarette raucht, versucht er, beim Ausatmen des Rauches auch die nagenden Fragen in der kühlen Dunkelheit verdunsten zu lassen. War seine Freundin damals tatsächlich in Wien? Wenn sie stattdessen in Prag war, was hatte sie dort getan? Gab es einen anderen Mann? Und macht es einen Unterschied, wenn es so gewesen wäre?
Er geht wieder zurück ins Wohnzimmer, setzt sich auf die Couch und liest weiter. Er haderte mit sich, bis er sich schließlich sagte, es sei eigentlich ganz normal, dass er nicht wisse, was er wolle, steht da über Tomas geschrieben. Man kann nie wissen, was man wollen soll, weil man nur ein Leben hat, das man weder mit früheren Leben vergleichen noch in späteren korrigieren kann.
Er hält inne, lässt das Buch sinken, wirft den Kopf in den Nacken. Er denkt an seine ehemalige Freundin, erinnert sich an eine zufällige Begegnung, vielleicht etwa ein Jahr nach dem Ende der Beziehung, an das merkwürdige Gefühl von damals, an seine Unsicherheit während des kurzen Gesprächs. Vor allem denkt er daran, was er alles vergessen hat.
Ist es besser, mit Teresa zu leben oder allein zu bleiben? Es ist unmöglich zu überprüfen, welche Entscheidung die richtige ist, weil es keine Vergleiche gibt. Man erlebt alles unmittelbar, zum ersten Mal und ohne Vorbereitung. Wie ein Schauspieler, der auf die Bühne kommt, ohne vorher je geprobt zu haben. Was aber kann das Leben wert sein, wenn die erste Probe für das Leben schon das Leben selber ist? Aus diesem Grunde gleicht das Leben immer einer Skizze. Auch ‹Skizze› ist nicht das richtige Wort, weil Skizze immer ein Entwurf zu etwas ist, die Vorbereitung eines Bildes, während die Skizze unseres Lebens eine Skizze von nichts ist, ein Entwurf ohne Bild.
Er dreht die Tageskarte der Verkehrsgesellschaft der Stadt Prag in seinen Fingern hin und her, legt sie an der gegenwärtigen Stelle in das Buch, klappt es zu und legt es neben sich auf die Couch. Vor seinen Augen verschwimmt das Zimmer, die Bilder an den Wänden zerfließen. In seinen Schläfen beginnt ein Pochen, er spürt es, er hört es, es scheint immer lauter zu werden, ein stetiges Anschwellen. Er hält es kaum mehr aus würde am liebsten schreien, doch dann hört es plötzlich auf.
Einmal ist keinmal, sagt sich Tomas. Wenn man ohnehin nur einmal leben darf, so ist es, als lebe man überhaupt nicht.

Was für ein großartiger Text. Sehr schön, wie du so unmittelbar fühlbar diese unerwarteten Berührungen unserer zahlreichen Welten darstellst. Büüücher… Immer aufs Neue faszinierend.
Ich bin noch nicht dazu gekommen, „die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ zu lesen, aber das hat mich jetzt wieder neugieriger gemacht :).
Liebe Grüße
Yuliya
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte… Und ja doch, die unerträgliche Leichtigkeit lohnt sich sehr, finde ich… Herzliche Grüsse zurück…
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super Text und klasse Foto!
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Vielen Dank dir!
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Buchzeichen… oh ja, sie sind wichtig und immer wieder anders, weil das naheliegendste benutzt wird u. die Überraschung bei einem späteren Blättern kenne ich gut, freute mich oft, oder machte mich nachdenklich, stutzig, aber es waren immer Dinge, die ich fand, um die ich wußte, die ich kannte, die von mir waren.
Es sei denn, ich habe eines bei meinen Wundertüteneinkäufen, auf Flohmärkten gefunden…
Da ist es dann sehr anders. Da kann die Fantasie schon bei den winzigsten Zettelchen Purzelbäume schlagen *lächel*
Da die Leichtigkeit des Seins so unerträglich ist, habe ich dieses Buch bisher nicht gelesen, aber vielleicht könnte ich es noch nachholen 🙂 , doch dann muß es vom Flohmarkt sein, sonst fehlt mir die Spannung zu sehr, was ich darin finden könnte…
Herzliche Grüße von Bruni
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Oh ja, den Büchern und Buchzeichen vom Flohmärkten wohnt dann wieder ein ganz eigener Zauber inne, und wer weiss, vielleicht triffst du ja bei einem Flohmarktbummel mal auf die Leichtigkeit des Seins, mit oder ohne geheimnisvolles Buchzeichen…
Vielen herzlichen Dank fürs Lesen und für deine Worte und Gedanken, liebe Bruni… Beste Grüsse zurück…
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Wie herrlich,
dieses Metalesen der unerträglichen Leichtigkeit des Seins…
und dann dieses kurze Eintauchen von der Metaebene direkt mitten ins Buch
wie ein Kormoran, der sich einen kleinen Stellenfisch herauspickt
aus dem Meer dieses originellen, einmaligen Buches
für die Ewigkeit,
in Sachen Liebe…
liebe Grüße,
Finbar
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Freut mich sehr, dass es dir gefällt, dieses kurze Eintauchen des Kormorans, ein wunderbarer Vergleich übrigens… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken, lieber Finbar, und herzliche Grüsse zurück…
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