Den endgültigen Entschluss fasst sie, als sie ihre Zungenspitze um seine Eichel kreisen lässt, schließlich ihre Lippen um seinen Penis legt und den Brechreiz erträgt. Nachdem sich die Gewissheit manifestiert hat, wirkt die Situation einen Moment lang so grotesk, dass sie verharrt. Als er an ihren Haaren zerrt und auf ein Weitermachen drängt, tut sie es, beinahe mechanisch und routiniert. Danach geht sie ins Badezimmer, putzt ihre Zähne, lässt Mundspülung in ihrer Mundhöhle zirkulieren und spuckt energisch aus. Mit dem Handrücken wischt sie ihre Lippen trocken, hebt ihren Kopf und starrt in den Spiegel.
Lange Zeit hatte sie es als gutes Zeichen gedeutet, dass die Tränen allmählich ausgeblieben waren. Sie weinte immer seltener und hörte irgendwann damit auf und folgerte daraus, dass sie weniger traurig sei. Wenn sehr lustige Komödien oder sehr herzzerreißende Melodramen auf Filmplakaten mit dem Versprechen angepriesen wurden, dass kein Auge trocken bleibe, zuckte sie nur mit den Schultern und trat den Gegenbeweis an. Als sie mit dem Auto irrtümlich ihre eigene Katze überfuhr und nichts dabei fühlte, ahnte sie, dass die Dinge wohl etwas komplizierter waren.
Nach einer kurzen Dusche zieht sie ein altes T-Shirt und kurze Hosen an, verlässt leise das Badezimmer und schleicht ins Schlafzimmer. Sie knipst die kleine Lampe auf dem Nachttisch an, stellt sich vors Bett und drückt den Rücken durch. Ich habe deine Scheiße satt, schreit sie ihm entgegen. Doch er schläft, ihre Stimme versagt und bleibt stumm, ihre Worte verkümmern im Hals, und sie schluckt leer. Sie schließt kurz die Augen und sieht ihn weiterhin, sieht sich selbst, mit einem langen Messer in der Hand. Dann sticht sie zu, immer wieder, wie im Rausch, das Blut zeichnet Linien an die weiße Zimmerwand. Schließlich öffnet sie die Augen wieder, blickt ihn an, wie er unbeirrt schläft und leise schnarcht. Sie presst ihre Zähne zusammen und geht zurück ins Badezimmer.
Sie weiß, dass sie ihn irgendwann geliebt hat. Sie weiß nur nicht, wann sie damit aufgehört hat. Und sie fragt sich, weshalb es so lange dauern musste, bis sie es erkennen konnte. Sie stützt die Hände auf den Waschtisch und sieht sich an. Wenn sie früher jeweils vor dem Spiegel stand, blickte sie nicht in ihre Augen, sondern stets auf die Stelle über der Nasenwurzel. Falls ihr Blick trotzdem und zufällig auf ihre Augen prallte, zuckte sie zusammen und wich hastig aus. Jetzt betrachtet sie das bräunliche Muster der Iris, das tiefe Schwarz der Pupille, mit einer unbekannten Neugier und einer ungewohnten Faszination.
In der Küche zieht sie das lange Fleischmesser aus dem Messerblock, wiegt es in der Hand, und wieder trifft ihr Blick direkt auf ihre Augen, die sich in der breiten Klinge spiegeln. Sie legt das Messer auf den Tisch und nimmt einige Plastiktüten aus einem kleinen Kasten. Sie räumt ihre Kleider aus der Kommodenschublade im Schlafzimmer, nimmt ihre Bücher aus dem Regal und ihre Utensilien aus dem Spiegelschrank im Badezimmer, hängt sogar das kleine Bild ab, das sie ihm einst gemalt hat, und füllt alles in die Plastiktüten.
Sie löst den Schlüssel vom kleinen Metallring, legt ihn auf die kleine Ablage beim Wohnungseingang und hat bereits die Tür geöffnet, als ihr das Gesicht im Spiegel im Flur auffällt. Erneut mustert sie es, fixiert die Iris, in der sich braune Wolken um ein schwarzes Loch zu legen scheinen. Sie bemerkt, dass ihre Lippen ein wenig zittern. Vorsichtig schließt sie die Tür wieder, geht an den Plastiktüten vorbei ins kleine Arbeitszimmer. Sie setzt sich an den Schreibtisch, nimmt ein weißes Blatt Papier zur Hand und beginnt zu schreiben. Nach einigen Minuten nimmt sie ein zweites Blatt vom Stapel, später ein drittes. Irgendwann legt sie den Stift hin, liest ihre Worte durch und nickt hin und wieder leicht. Unter einigen Notizen und losen Blättern auf dem Schreibtisch findet sie sein Adressbuch, legt es vor sich hin, blättert ein wenig darin. Sie liest die Namen seiner Eltern, seiner Schwester, seiner Freunde, von ehemaligen Freundinnen, von Frauen, die sie kennt, und von Frauen, die sie nicht kennt. Dann schreibt sie zweiundvierzig Adressen auf zweiundvierzig Umschläge. Sie legt die Briefbögen in den kleinen Drucker, der auch kopieren kann, drückt einige Tasten und schaut zu, wie sich das Ausgabefach allmählich füllt. Als ein leiser Pfeifton erklingt, beginnt sie, die Kopien zu sortieren und in die Umschläge zu stecken. Bevor sie die Wohnung verlässt, wirft sie noch einen Blick ins Schlafzimmer, wo er noch immer schlafend und schnaubend im Bett liegt.
Die Postfiliale hat gerade erst geöffnet, der ältere Mitarbeiter hinter dem dicken Glas am Schalter wirkt müde und ziemlich unfreundlich, er weigert sich, die zweiundvierzig Briefmarken aufzukleben, also tut sie es selbst, beinahe zärtlich und mit größter Achtsamkeit. Nachdem sie jeden Umschlag nochmals genau betrachtet hat, bringt sie den Stapel wieder zum Schalter. Der ältere Herr nickt zuerst pflichtbewusst und blickt an ihr vorbei, doch als er ihr in die Augen schaut, hellt sich sein Gesicht auf, er lächelt, sie lächelt ebenfalls, und ihre Schultern werden leichter. Schließlich bedankt und verabschiedet sie sich.
Dann steht sie draußen vor dem alten Postgebäude, die schweren Tüten in den Händen, blickt sich um und rührt sich nicht. Dass sie weint, bemerkt sie erst, als eine alte Frau sie fragt, ob alles in Ordnung sei. Sie nickt heftig, murmelt etwas und wartet, bis die alte Frau weitergeht. Dann atmet sie ein, atmet aus, atmet weiter, drückt den Rücken durch. Und blinzelt in die Sonne, die allmählich an Kraft gewinnt.
Erschütternd. Traurig. Entmutigend. Ich hoffe nur, nie als Mann in eine solche Situation zu geraten. Aber es sind ja auch nicht „die Männer (mit ihren Schwänzen)“ wie @Finbar schrieb, glücklicherweise nur ganz bestimmte, oder. (Und sicher auch nur ganz ganz gestimmte Frauen.)
Bei den ersten Anzeichen (vielleicht eines Misverständnisses), schon den geringsten, nicht drüber hinweggehen, sondern genau hinsehen. Miteinander sprechen, sich immer einmal mehr entschuldigen als man denkt. Das ist mein Weg, damit umzugehen. In jeder Beziehung trifft man ja auch auf die Vergangenheit des Gegenübers, sie ist manchmal ähnlich stark wie Gegenwart, nur oft unausgesprochen, wie ein Schatten. Damit muss man leben. OM SHANTI
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„die Männer“ gibt es wohl ebenso wenig wie „die Frauen“… Und ja, miteinander reden, sich öffnen und austauschen, das ist zentral… Aber wenn es gar nicht mehr geht und nur noch schmerzt und aushöhlt, ist ein Ausbrechen vielleicht noch der einzig gangbare Weg… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
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Eines jener knallharten (Sex-)Themen, die viel zu wenig schriftstellerisch seriös durchleuchtet werden, lieber Disputnik…
aber dir ist es beeindruckend gelungen…
und ich habe wie gebannt hier vor dem Monitor gesessen und deine Zeilen gelesen…
die Männer und ihre Schwänze, an infinite Story, erbärmlich und nicht wohlschmeckend!
Dir einen schönen Abend…
herzliche Grüße
Finbar
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Ja, erbbärmlich und ungeniessbar ist sie tatsächlich, die unendliche Geschichte… Herzlichen Dank fürs Lesen und für deine Worte… Dir ebenfalls einen schönen Abend und ein ebenso schönes Wochenende….
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Eine sehr berührende Geschichte, die mich fesselte – von Beginn an. Vielen Dank!
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Das freut und ehrt mich… Vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine Worte…
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