Die Stadt hat etwa einhunderttausend Einwohner, einen hübschen Stadtkern mit stilvollem Gepräge und viel Grün. Mehrere Flussläufe fragmentieren die Geografie, zwischen den halbhohen Häusern führen Pflastersteingassen durch eine autofreie und bemerkenswert saubere Innenstadt. In den Schaufenstern tragen kopflose Puppen aktuelle Modekreationen und elegantes Schuhwerk, Buchhandlungen laden zum Geschichtenlesen ein, Konditoreien locken mit süßem Backwerk, zahlreiche Kaffeehäuser öffnen sich gegen die Fußgängerzone. Eigentlich wäre Nolgg genau das, was im Standortmarketing gern mit Wortschöpfungen wie pulsierendes Zentrum oder urbane Dynamik beschrieben wird. Doch Nolgg hat gar kein Standortmarketing.
Nolgg war das Experiment eines unbegrenzt reichen und begrenzt zurechnungsfähigen Unternehmers, der bei seinem Tode zwar keine Kinder, aber ein kaum in Zahlen zu fassendes Vermögen hinterließ, das er jedoch nicht einer Krebsstiftung oder dergleichen vermachen wollte. Stattdessen gab er den Bau einer Stadt in Auftrag, einer weitestgehend autonomen Stadt, frei von kommunalen Zwängen und politischen Zugehörigkeiten, ohne jeglichen religiösen oder geschichtlichen Hintergrund. Zwar sollte es Behörden geben, eine Verwaltung, gewisse Strukturen. Doch ansonsten war Nolgg als Vision der Unabhängigkeit und Freiheit geplant. Für die Bewohner konnte Nolgg alles sein, sogar ein Zuhause. Nur keine Heimat. Denn es gibt kein amtliche Zugehörigkeit zur Stadt, keine Bürgerschaft. Nolgg ist nicht einmal als Geburtsort anerkannt. Nolgg hat zwar ein Krankenhaus, aber keine Geburtenabteilung, und auch Hausgeburten werden per Dekret einer anderen Stadt zugeschrieben. Wer auch immer in Nolgg wohnt, ist an einem anderen Ort der Welt zur selbigen gekommen. Entsprechend tragen die Straßen keine Namen von berühmten Söhnen und Töchtern der Stadt, sondern heißen wie Tiere oder Bäume, die Löwenstraße kreuzt den Lindenweg. Nolgg hat keine Kirche, aber zahlreiche Gemeinschaftshäuser, in denen man sich treffen kann. Nolgg hat keine Vergangenheit, sondern soll die Zukunft sein.
Aus einer merkwürdigen Idee einer Stadt ohne Heimat entwickelte sich rasch ein bemerkenswertes Konstrukt. Im Jahr 2012 wurde Nolgg eröffnet, und schon nach wenigen Monaten waren alle verfügbaren Wohnungen vergeben und bezogen. Zu Beginn verhielten sich alle Bewohner äußerst vorsichtig, drückten sich den jungen Mauern der Stadt entlang und klammerten sich an Handläufe, sofern sich welche fanden. Man begegnete sich höflich, aber reserviert, schloss zaghaft Bekanntschaften und knüpfte erste Freundschaftsbänder. Im einzigen Museum der Stadt hingen Bilder, die von den ersten Tagen des Frühlings erzählten, von der nach frischer Wäsche duftenden Zeit des Erwachens der Weiblichkeit, vom Aufblühen in unzähligen Farben. Alles war neu. Die Stadt, die Häuser, die Wege. Auch die Menschen waren neu, selbst die alten. Die Luft war voller Verheißungen.
Tatsächlich schien sich das Experiment als Erfolg zu erweisen. Nach einem Jahr wurde die Zufriedenheit der Bewohner erhoben, und die Resultate der Befragungen zeigten konsequent hohe Werte. Medien und Sozialwissenschaftler aus allen Ecken der Welt blickten nach Nolgg und gaben ihrer Verblüffung Ausdruck. Auch in der Stadt selbst gab es kaum Stimmen, die sich kritisch oder gar negativ zu jenem Projekt äußerten, welches sie selbst Tag für Tag weiterentwickelten. Und eigentlich sah alles so aus, als wäre aus der reichlich fragwürdigen Vision des reichen Unternehmers ein Triumph des fantasievollen Geistes über die rationale Logik des Verstandes geworden.
Eines Tages jedoch stand eine junge Frau auf einem kleinen Hügel, blickte auf die Stadt und hörte ein Knacken und Knirschen. Es wurde lauter und wieder leiser, schwoll erneut an, vermengte sich mit vereinzelten Rufen und einem beständigen Rauschen. Sie wusste nicht, wodurch die Geräusche ausgelöst wurden, doch sie war sich sicher, dass etwas nicht stimmte. Sie sprach mit anderen Bewohnern über die Vorkommnisse, und man begann, beinahe vergessene Begriffe zu bemühen und nach Schuldigen zu suchen. Irgendjemand musste verantwortlich sein für die jüngsten Entwicklungen, für den merkwürdigen Lärm, der sich immer mehr in die Gassen von Nolgg ergoss. Schon bald begannen sich die Zweifel und Mutmaßungen auszubreiten wie eine Grippe. Zuerst wurde nur leise gehustet, man flüsterte und hob eine Hand vor den Mund, während man mit der anderen Hand auf andere Menschen zeigte. Als jedoch eine unabhängige Zeitung einer Nachbarstadt über die merkwürdigen Geräusche in Nolgg berichtete, war die Zeit des Flüsterns und Murmelns vorüber. Wie eine wütende Flutwelle entlud sich die angestaute Energie, brach über die Stadt hinein. Mehrere Tage lang war Nolgg erfüllt von einem stetigen Dröhnen und Kreischen, hunderttausende Stimmen schienen gleichzeitig zu heulen, die Bewohner brüllten, bis ihre Lungen versagten, atmeten kurz durch und begannen wieder zu schreien. Irgendwann reichte die verbale Gewalt schließlich nicht mehr aus. Auf die ersten zaghaften Hiebe folgten weitere, und die Schläge wurden laufend heftiger. Schließlich brach der Kontakt zur Außenwelt ab. Rund zwei Wochen lang wagte sich niemand in die Stadt, über Nolgg lag ein rötlich schimmernder Dunst, und die verzweifelten Rufe waren bis in die nächste Stadt zu hören.
Seit einiger Zeit ist in Nolgg ein wenig Ruhe eingekehrt, in jeder Hinsicht. Das Brüllen ist zu einem tiefen Brummen geworden, die Kommunikation ist wieder hergestellt, die meisten Schäden sind behoben, und abgesehen von einigen Auseinandersetzungen bleibt es relativ friedlich. Häufig anzutreffen sind große Lastwagen von Umzugsfirmen, die ersten Fenster beginnen von nackten Wänden und kahlen Räumen zu erzählen. Dass die leeren Wohnungen bald wieder vermietet sein werden, bleibt zu bezweifeln, ein entsprechendes Interesse ist schlicht nicht vorhanden. In den Hotels der Stadt sind noch einige Sozialwissenschaftler einquartiert, manche unter ihnen klagen über Krämpfe ob des stetigen Schulterzuckens. Doch auch sie reisen allmählich ab, einer nach dem anderen. Manche unter ihnen fahren nach Fultz, eine gleichermaßen junge Stadt im Osten des Landes. Dort wurden klare Sektoren definiert und voneinander abgegrenzt, getrennt nach politischen Neigungen. Man spricht von einer mutigen Vision, von einem kühnen Experiment, und ist gespannt, wie sich Fultz entwickeln wird.

Du hast eine künstliche Stadt erschaffen und sie erinnert mich ein wenig an Dubai, das mir auch immer so künstlich, weniger kunstvoll vorkommt, auch wenn es reich geschmückt ist.
Doch ist es nicht auch mit einem neuen Stadtteil in einer alten Stadt so, wie zB. in HD aktuell mit der Bahnstadt, wo es vorher kein einziges Haus gab, vielleicht drei verfallene Gartenhüttchen, ich weiß es nicht. Nun wurde da eine wirklich komplett neue Stadt aus dem Boden gestampft, mit Grünanlagen, die es noch nicht gibt, Straßen u. allem, was dazu gehört…
Na ja, von der Stadtverwaltung genehmigt und alles ordnungsgemäß abgesegnet, aber hätte das nicht auch Dein übermäßig reicher Mann tun können? Sich mit den Verwaltungen in Verbindung setzen, mit einem kleinen feinen ordentlichen Bürgermeisteramt dann im Zentum seiner Stadt? Dann wäre Geburten eingetragen worden, für neue Erdenbürger wäre eine Heimat entstanden…
Warum war ihm die Autonomie so wichtig? Was hatte es für einen Gund?
Nun ist es bei Dir eben anders und die Stadt krankt an ihrer isoierten Künstlichkeit uud knirscht und kracht in allen Fugen, weil es so etwas einfach nicht geben kann/darf und ich vermute, genau das wolltest Du auch darstellen, lieber Disputnik.
Ich habe schon Probleme mit einem großen künstlich geschaffenen Einkaufszentrum und meide es wie die Pest. Werden die Schlangen auf der Autobahn dorthin immer länger, fahre ich langsam und genußvoll daran vorbei und liebe die alten in oftmals vielen Jahrhunderten gewachsenen Städtchen mit ihren Stadtkernen und ihren wundervollen Winkeln und Gassen, mit ihrer Enge und mitunter auch dem dort herrschenden Gedränge…
Ein Text, der sehr zum Denken anregt, lieber Disputnik
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Vielen herzlichen Dank, liebe Bruni… Es freut mich sehr, dass der Text zum Denken anregt, und es freut mich noch mehr, dass du deine Gedanken teilst und mitteilst…
Es ging mir gar nicht nur um Aspekte wie Stadtentwicklung oder so, sondern auch um Heimat, diesen merkwürdigen Begriff, der doch so oft für gesellschaftliche Unruhen verantwortlich scheint. Ähnliches gilt auch für die kollektive Vergangenheit, auch für religiöse und politische Strukturen. Beim Experiment ging es dem merkwürdigen Mann vielleicht darum, zu ergründen, ob das Zusammenleben besser klappt, wenn da keine Heimat ist, keine Geschichte, keine eingespielten und eingeübten Strukturen. Aber eben, es war wohl ein ziemlich zweifelhaftes Experiment…
Nochmals lieben Dank und herzliche Grüsse…
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Klasse Geschichte✨
Es gibt einen Song, er ist von den Dire Straits und heißt ‚Telegraph Road’…
Erzählt wird der Auf- und Niedergang einer Stadt…
Liebe Grüße von der Karfunkelfee
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Herzlichen Dank! Ich kenne den Song vage, doch auf den Text hab ich nie geachtet. Sollte ich wohl mal nachholen.
Liebe Grüsse zurück…
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Lohnt sich…😊
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