Spätestens in jenem Moment, als sie zum ersten Mal über den Tintenfisch sprach, hätte er es bemerken müssen. Sie waren acht oder elf Jahre ein Paar, und in dieser Zeit hatten sie nie über Tintenfische geredet. Nie. Tintenfische waren in ihrer Beziehung schlicht und einfach nicht präsent, waren kein Thema, standen nicht zur Debatte. Bis zu jenem Tag.
Sie sagte nicht Hintern, nicht Po, nicht Gesäß. Sie sagte Arsch. Natürlich hörte er das Wort nicht zum ersten Mal. Aber zum ersten Mal aus ihrem Mund. Und irgendwie klang es wie das verzweifelte Klagen des Staubsaugers, wenn etwas im Rohr hängengeblieben war. Wie das seltsame Kreischen dieses Gerätes, das die Dentalhygienikerin benutzte, um den Zahnstein aus seiner Mundhöhle zu schaben. Wie Fingernägel auf der Wandtafel im Schulzimmer. Wie jedes andere Geräusch, das unangenehm genug ist, um den Widerwillen zu symbolisieren, den er empfand, als sie sagte, sie wolle sich einen Tintenfisch auf den Arsch machen lassen.
Er erschrak kurz, empfand eine Mischung aus Empörung und Verwirrung. Doch er sagte nichts und zuckte nur mit seinen Schultern. Das tat er oft, wenn er empört oder verwirrt war. Natürlich auch dann, wenn er verunsichert war oder etwas nicht wusste. Wenn er mutlos oder gehemmt war. Wenn er sich hilflos oder seltsam fühlte. Er zuckte so häufig mit seinen Schultern, dass er eigentlich eine Muskelzerrung hätte erleiden müssen, oder ein Repetitive Strain Injury-Syndrom, doch erstens hatte er keine Ahnung, was ein Repetitive Strain Injury-Syndrom war, und zweitens wäre es sowieso nie diagnostiziert worden, denn er litt unter Iatrophobie, der Angst vor Ärzten. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er auch über Cephalopodophobie hätte klagen können, die Angst vor Kopffüßern, dann hätte er vielleicht eine heftigere Reaktion auf den Tintenfisch gezeigt, denn Tintenfische zählen schließlich zu den Kopffüßern. Doch da war keine Cephalopodophobie zu erkennen, außerdem war die Cephalopodophobie mit ziemlicher Sicherheit gar keine offizielle Phobie, und überhaupt waren ihm Tintenfische ziemlich egal. Sie gingen ihm am Arsch vorbei. Und eigentlich ging es ihm auch am Arsch vorbei, als sie sagte, dass sie sich seinen Tintenfisch auf den Arsch machen lassen wolle. Er vermutete lediglich, dass sie von einer Tätowierung sprach. Doch Tätowierungen gingen ihm ebenso am Arsch vorbei wie Tintenfische. Darum maß er jenem Moment, als sie zum ersten Mal über den Tintenfisch sprach, keinerlei Bedeutung zu. Darum hörte er auch nicht mehr zu, als sie immer wieder über den Tintenfisch reden wollte und ihn mit drängendem Gesichtsausdruck um seine Meinung bat. Und als sie ihm schließlich sogar einen Brief schrieb, in welchem sie ihre Gefühle im Bezug auf den Tintenfisch in sehr sehr sehr viele Worte fasste, schnappte er nur einige davon auf, als er die sieben Seiten des Schriftstücks hastig überflog. Es war doch nur ein Tintenfisch. Am Arsch. Ein lächerlicher Tintenfisch.
Ihre zunehmende Fixierung auf den Tintenfisch war nicht die einzige Veränderung. Sie kleidete sich anders, körperbetonter und mit reduziertem Textilanteil. Ihr Haar trug sie manchmal offen, dann wieder kunstvoll geflochten, die Haarfarbe wechselte immer häufiger. Sie kaufte sich neue Parfums und Pflegeprodukte, duftete nach Kaschmirholz und Patchouli und Grapefruitblüte und Johannisbeere und Jasmin und Veilchen, dann wieder nach Amber und Moschus und Vanille und Lavendel und Mandarine, doch nichts davon fiel ihm auf. In seiner Nase und in seinen Augen war alles so wie immer, und wenn alles so wie immer war, war eigentlich alles gut, war in Ordnung.
Erst als ein leichter Fischgeruch in seine Nase stieg, rümpfte er diese und griff sich an selbige, schlug die Augen auf und sah ihn. Den Tintenfisch. An ihrem Arsch. Keine Tätowierung, sondern ein richtiger, ein echter Tintenfisch. Natürlich war es da bereits zu spät. Denn dass er ihn sah, den Tintenfisch, dass er ihn endlich wahrzunehmen vermochte, lag vornehmlich daran, dass sie ging. Weg von ihm. Sehr weit weg, und mit jedem Schritt, den sie sich von ihm entfernte, verschwammen Tintenfisch und Arsch, schienen ineinanderzufließen. Er verfluchte den Tintenfisch. Er verfluchte alle Tintenfische. Vor allem aber verfluchte er sich selbst. Eine Cephalopodophobie hätte wohl etwas geändert. Vielleicht hätte eine Cephalopodophobie sogar ihre Beziehung retten können, hätte ihn retten können, vor dem Tintenfisch, vor der Leere. Aber eben, er hatte keine Angst vor Kopffüßern, keine Angst vor Tintenfischen, hatte sie nie gehabt. Eigentlich hätte er es spätestens in jenem Moment bemerken müssen, als sie zum ersten Mal über den Tintenfisch sprach. Als er es allmählich zu begreifen vermochte, war der Tintenfisch längst nicht mehr da.

Sehr gut!
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Danke schön!
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Tintenfisch als Beziehungskiller? Naja wohl eher die zur Schau gestellte routinierte Gleichgültigkeit…Cooler Text auf jeden Fall! Trotz ungewöhnlicher Idee ziemlich alltagsnah
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Vielen Dank fürs Lesen und für deine Worte… Und ja, tendenziell ist die Gleichgültigkeit für eine Beziehung wohl eine grössere Gefahr als jeder Tintenfisch…
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Hammerfoto!
Hammertext!
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Dankeschön!
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verrückte idee, kompliment!! es erinnert mich zum einen an karen duves geschichte von der kopffüßler-frau in dem einsamen haus… und daran, dass wohl jede beziehung ihren eigenen tintenfisch hat.
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und noch was: was war zuerst da? die geschichte oder das bild?
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Zuerst das Thema, die Grundidee. Dann das Bild. Dann die Worte, die ausformulierte Geschichte.
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mir drängt sich noch eine frage auf, die mit der geschichte so gar nichts mehr zu tun hat – wie kommt man an solche bilder? 😀
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Die Bildquelle findest du jeweils unterhalb des Fotos auf dem Blog, einfach auf den Namen klicken… Wie ich auf genau dieses Foto gestossen bin, weiss ich gar nicht mehr genau; hab wohl irgendeinen Such-Tag eingegeben, der bei diesem Foto hinterlegt ist…
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Vielen Dank! Die Geschichte von Karen Duve kenn ich nicht, klingt aber interessant… Und ja, wohl fast jede Beziehung hat ihren Tintenfisch. Oder einen Elefanten im Raum. Oder ein anderes Tier. Doch wenn man über sie sprechen kann, machen sie in der Regel weniger kaputt.
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ja, das dachte ich auch. unausgesprochene tintenfische sind viel schlimmer als die, die fröhlich mit am tisch sitzen.
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Fröhliche Tintenfische am Tisch… Ein schönes Bild… Vielen Dank dir…
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gern 🙂
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Der arme Tintenfisch XD
Ja, in den meisten Beziehungen sind Tintenfische eher selten Thema, nehme ich an. Dafür sollte das Zuhören und Ernstnehmen immer Thema sein…
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Ja, es sollte wohl Thema sein, das Zuhören und Ernstnehmen. Doch hin und wieder bleibt es wohl auf der Strecke… Vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine Gedanken…
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