Damals, vor den Bartstoppeln, vor dem Stimmbruch, vor den Irritationen des fortschreitenden Lebens und vor dem Zurücksehnen nach dem verlorenen Kind, damals war das 21. Jahrhundert noch in weiter Ferne, und alles, was Modernität und Innovation ausstrahlen sollte, erhielt die Zahl 2000 als Begleiterin. Ein elektronisches Gerät, dessen Bezeichnung diese Zahlenfolge enthielt, war ein produktgewordener Fingerzeig in die Zukunft. Jeder Medienbericht, der die Vorstellungen der zukünftigen Welt zumindest tangierte, führte die Zahl 2000 im Titel, die wiederum im Kontext von Eisenbahnprojekten nicht nur deren unschätzbare Zukunftssicherheit manifestierte, sondern auch gleich die exorbitanten Kosten rechtfertigte. Fahrräder und Spielwaren und Bratpfannen und Kugelschreiber erhielten durch die magische Zahl eine futuristische Anmutung, und ein Erfrischungsgetränk mit dem Zusatz 2000 nahm den Trinkgenuss des dritten Jahrtausends vorweg. Die Zukunft, sie schmeckte nach Orangen und Zitronen, sie schmeckte verführerisch und süß, ein Versprechen, das man sich auf der Zunge vergehen lassen konnte.
In einer Serie im Fernsehen legten merkwürdig traurig wirkende Menschen merkwürdige Tabletten in einen merkwürdigen kleinen Ofen, drückten einen Knopf, und in wenigen Sekunden wurde aus den merkwürdigen Tabletten vollwertige Mahlzeiten. Ich weiß nicht mehr, wie die Sendung hieß oder ob sie mir überhaupt gefiel, doch diese Szene brannte sich ein, und ich stellte sie neben all die anderen Bilder, mit welchen ich die Welt der Zukunft in meinem Kopf illustrierte. Autos konnten fliegen, in jedem Zimmer gab es einen großen Bildschirm, der über Nachrichten aus aller Welt ebenso informierte wie über den Blutdruck und den Gemütszustand, man reiste in zwei Minuten in die Südsee, ging auf fernen Planeten spazieren, alles war so einfach und leicht, so rein und weiß. Zwar schienen die Bilder seltsam unpersönlich, entmenschlicht und fremd, ohne spürbare Wärme und Nähe. Trotzdem sah sie verlockend aus, die Zukunft. Sie klang nach Vogelgezwitscher und einem elektronischen Piepsen. Sie schmeckte nach Orangen und Zitronen. Und ich konnte kaum erwarten, dass sie endlich begann.
Als ich zum ersten Mal in der Welt im Jahr 2000 erwachte, lag kein Versprechen mehr auf meiner Zunge. Was auch immer es war, es schmeckte nicht nach Orangen und Zitronen, sondern irgendwie salzig und ranzig. Jedes potenzielle Vogelgezwitscher wurde vom Dröhnen und Rauschen in meinem Kopf verschlungen, von meinem Blutdruck hatte ich keine Ahnung, über meinen Gemütszustand wusste ich umso besser Bescheid und hätte auf dieses Wissen gerne verzichtet. Das war also die Zukunft. Sie sah nicht so aus wie auf den inneren Bildern meiner Kindheit. Autos konnten nicht fliegen, kaum etwas war einfach und leicht. Nur die Fremdheit war Realität geworden, die entmenschlichte Kälte. Und als ich in den Spiegel schaute, erkannte ich den Gesichtsausdruck der merkwürdig traurig wirkenden Menschen, die damals merkwürdige Tabletten in einen merkwürdigen kleinen Ofen gelegt hatten.
Mag sein, dass es auch heute irgendwelche magischen Codes gibt, um Fahrrädern und Spielwaren und Bratpfannen und Kugelschreibern eine futuristische Anmutung zu verleihen, doch sie sind mir egal. Ich bin lediglich froh, dass es nach der Welt im Jahr 2000 noch eine weitere Zukunft geben konnte. Wenn ich die Welt dieser Zukunft in meinem Kopf illustriere, sind zwar keine fliegenden Autos zu sehen, vieles wirkt noch immer keinesfalls einfach oder leicht. Aber immerhin sind sie warm, die Bilder. Und niemand legt merkwürdige Tabletten in einen merkwürdigen kleinen Ofen.

Ich glaube, 2000 war das Jahr, in dem wir aufgehört haben, Science Fiction mit Jahreszahlen zu versehen.
LikeLike
In Bezug auf 2012 gab’s zumindest noch ein kurzes apokalyptisches Aufflackern… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
LikeLike
Ja, wie wahr, das steckte in unseren Köpfen drin, dieses Gefühl. Diese Hoffnung, dass sich entscheidendes ändern würde.
Dem Universum war es egal, ob es 1999 oder 2000 war.
So wie es dem Universum auch egal sein wird, wenn 2500 angebrochen ist.
Traurige Erkenntnis.
LikeLike
Mir scheint, man stand der Zukunft früher irgendwie unschuldiger gegenüber, weniger ernüchtert, aber vielleicht täuscht das oder ist nur ein subjektiver Eindruck… Lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
LikeLike
Zukunft hat etwas von Kinderaugen, die hoffnungsvoll dreinblicken, dann erwachsen werden und erkennen, was wirklich ist.
LikeLike
Fragt sich nur, ob das einfach jede/n Einzelne/n von uns betrifft oder auch uns als Gesellschaft…
LikeLike