Ich sitze im Auto und das Auto steht vor einer Ampel und die Ampel ist rot und ich trommle mit meinen Fingern auf das Lenkrad und warte. Natürlich weiß ich, dass sie grün werden wird, Ampeln wechseln immer irgendwann von Rot auf Grün, das ist einfach so, das ist ein ungeschriebenes Gesetz, das ist selbstverständlich, schließlich liegt darin auch der Zweck einer Ampel, und eigentlich mache ich mir keine Sorgen, dass ausgerechnet diese Ampel nicht irgendwann grün werden wird. Dennoch überlege ich mir, was geschähe, wenn sie rot bliebe. Was tut man da? Bleibt man im stehenden Auto sitzen und wartet? Wie lange wartet man? Fährt man nach einigen Minuten einfach los und hofft, dass sich kein Unfall ereignet? Steigt man irgendwann aus? Ruft man die Polizei an? Beginnt man zu zittern oder zu zetern? Gerät der gesamte Lauf der Welt und der Zeit aus den Fugen? Oder zerbricht man sich seinen Kopf mit unsinnigen Fragen? Denn das sind sie doch, die Fragen, vollkommen unsinnig, denn die Ampel, sie wird grün werden, da bin ich sicher. Ganz sicher. Ich weiß es.
Doch diese Sicherheit und dieses Wissen, es gibt sie nicht. Wir glauben nur zu wissen, dass die Ampel grün werden wird, wir sind es gewohnt, doch selbstverständlich ist es nicht. Wir betrachten es lediglich als selbstverständlich. Das tun wir gerne, das können wir gut. Es scheint selbstverständlich, dass am Morgen das Licht des Tages die Dunkelheit der Nacht verdrängt. Dass Wasser aus dem Wasserhahn fließt. Dass in der Dose, die mit einem Bild von Maiskörnern bedruckt ist, auch wirklich Maiskörner enthalten sind. Dass die Menschen, die man liebt, da sind, wenn man abends nach Hause kommt. Dass der Röntgenapparat beim Arzt keine übermäßige atomare Strahlung abgibt. Dass der Mann im Cockpit auch wirklich Pilot ist. Dass Regenwasser nicht die Haut verätzt.
Diese und all die anderen Selbstverständlichkeiten sind Illusionen. Keine dieser Selbstverständlichkeiten versteht sich von selbst. Da ist immer eine gewisse Abhängigkeit, von anderen Menschen, von Geräten und Maschinen, von den Dingen der Welt und von der Natur. Wir müssen uns auf sie verlassen, müssen vertrauen, müssen glauben und hoffen. Wir sind abhängig, wir sind Abhängige, ohne Sucht, ohne Chance auf Entzug. Zwar proklamieren wir Freiheit als höchstes Gut der Gesellschaft, als Grundlage eines selbstbestimmten Lebens, doch in der Abhängigkeit kann es keine absolute Freiheit geben, also sind wir nicht frei. Wir bewegen uns höchstens relativ frei innerhalb der Abhängigkeiten, die uns umgeben und unser Leben beeinflussen. Und in aller Regel ist es uns ziemlich egal. Vielleicht muss es das sein. Wahrscheinlich geht es gar nicht anders. Selbstverständlich ist es verständlich, dass wir vieles als selbstverständlich erachten, obwohl es sich nicht wirklich von selbst versteht. Und vielleicht brauchen wir die Illusion, dass sich etwas von selbst versteht, weil wir es selbst nicht verstehen.
Der Fahrer hinter mir hupt. Das ist verständlich. Die Ampel ist längst grün. Selbstverständlich.

Wiedereinmal fein, Herr Disputnik.
Ich wage aber zu ergaenzen, dass es eine gute Schwester der boesen Selbstverstaendlichkeit gibt. Heisst Vertrauen. In Gegebenheiten, Menschen, Doseninhalte. Ohne Sie werden wir zu Zweiflern und Noerglern. Wie so oft unter Geschwistern, nur ein Machtkampf um Aufmerksamkeit, zwischen den beiden. My little 2 pence 🙂 und danke fuer den Text.
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Vielen Dank für deine Worte!
Und ja doch, die gute Schwester, die gibt es, sie ist auch im Text, und ohne sie gäbe es wohl auch die Selbstverständlichkeit oftmals nicht. Ich weiss nicht, ob es stets ein Machtkampf ist, manchmal wohl eher eine Koexistenz. Obwohl in mancher Hinsicht das Vertrauen essenziell und die Selbstverständlichkeit eher zu vermeiden ist…
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Sie wechselt nicht selbstverständlich von Rot auf Grün. Es gibt da die Eventualitäten. Bauarbeiten oder der Einzug der Nacht zum Beispiel. Es blinkt dann orange. Aber auch darauf ist unser Verstand vorbereitet. Und all diese Selbstverständlichkeiten, aber auch die Eventualitäten, die wir miteinplanen sind von elementarer Wichtigkeit für unsere Spezies. Ohne diesen Halt wären wir verloren. Doch wenn wir unser Leben auf diesen Selbstverständlichkeiten aufbauen sind wir arm. Sehr arm. Da bleibt kein Platz. Für nichts.
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Danke!
Ja, auf Selbstverständlichkeiten verlassen wir uns, auf Eventualitäten sind wir (manchmal) vorbereitet, und ohne all das, was vielleicht auch mit Intuition und Vertrauen zu tun hat, wären wir wohl tatsächlich verloren, würden uns verlieren. Und ja, wenn alles Wichtige im Leben selbstverständlich ist, dann ist man wohl tatsächlich arm…
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Vielen lieben Dank!
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Selbstverständlich sehr schön 😉 Vor allem, wie die Ungeduld in den Bandwurmsätzen am Anfang durchkommt.
Ein bisschen klugscheißen muss ich dann doch:
„Dass der Röntgenapparat beim Arzt keine atomare Strahlung abgibt.“
Je nachdem, was du mit „atomarer Strahlung“ meinst, ist dem aber tatsächlich so. Ionisierende (und damit gefährliche) Strahlung jedenfalls gibt der Röntgenapparat ab – die Bleischürze gibt es nicht, weil sie so schick ist 😉 Aber vielleicht gehört das zu den Dingen, über die man eben nicht gern nachdenkt?
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Vielen lieben Dank für deine Worte!
Und auch lieben Dank fürs Klugscheißen, das gar keines war. Dass da Strahlung entsteht, war mir eigentlich schon klar, aber eben, gern drüber nachdenken tut man wohl da wirklich nicht. Ich hab’s aber trotzdem ein wenig angepasst, mit übermäßiger atomarer Strahlung ist’s nun wenigstens ein bisschen weniger falsch…
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