Einer tut seine Meinung kund. Er nennt sich XY, heißt natürlich anders und findet: Ganz furchtbar! Zuerst W. und jetzt M. Zwei große Persönlichkeiten sind gegangen. Rest in Peace! So oder ähnlich schreibt er es in das Kommentarfeld auf der Website einer Zeitung. Zwei Menschen sind also gestorben, innert weniger Tage, und XY verleiht seiner Traurigkeit Ausdruck. Das ist legitim, könnte man meinen, und in Zeiten, in denen selbst völlig unbekannte Möchtegernprominente und hässliche Filmhunde unzählige Beileidsbekundungen und eine eigene Gedächtnisseite im Internet auslösen, ist es wohl auch nicht außergewöhnlich. Trotzdem erntet sein Kommentar vor allem Häme und Spott in Form von zahlreichen erbosten Widerworten. Er sei ein Idiot, ein Dummkopf. Man könne doch den Herrn W. und den Herrn M. nicht auf eine Stufe stellen. XY solle sich mal vom Fernseher wegbewegen und ein Geschichtsbuch aufschlagen. Herr W. habe ein paar ziemlich schlechte Filme gedreht. Herr M. hingegen habe die Welt verändert.
Natürlich haben sie Recht. Natürlich sind die Argumente nachvollziehbar. Auch bei mir löst der Kommentar von XY zuerst ein Kopfschütteln und einen seltsamen Geschmack im Mund aus. In meinen Augen war Herr M. tatsächlich eine große Persönlichkeit. Herr W. war mir einfach nur egal. Und irgendwie erscheint es mir unpassend, das Leben und den Tod von Herrn W. mit der gleichen Bedeutung zu versehen wie das Leben und den Tod von Herrn M.
Herr W. war erst 40 Jahre alt, als er sein Leben hinter sich lassen musste, während Herr M. in den Sekunden vor seinem Tod auf 95 Jahre zurückblicken konnte. Würde in einer Zeitung die Todesanzeige eines 40-Jährigen neben jener eines 95-Jährigen zu sehen sein, würde man beim älteren Mann von einem schönen Alter reden, beim jüngeren Herrn hingegen dessen viel zu frühes Ableben bedauern. Die 40 trägt tendenziell mehr Tragik und Traurigkeit als die 95. Aber eben, der junge Herr W. war ein mittelmäßiger Schauspieler mit hübschem Gesicht. Der alte Herr M. war ein großmütiger Revolutionär, wie Die Zeit ihn nannte. Darum stirbt Herr M. auf allen Titelseiten. Es wird Spezialsendungen im Fernsehen geben, Sonderbeilagen in Zeitungen, Spezialausgaben von Zeitschriften, man wird Straßen und Plätze nach ihm benennen, vielleicht auch humanitäre Auszeichnungen und neu entdeckte Sterne. Und all das zurecht und aus gutem Grund, denn Herr M. zählte zweifellos zu den herausragenden Persönlichkeiten der letzten Jahrzehnte, seine historische Bedeutung und sein Einfluss auf Südafrika, aber auch auf den afrikanischen Kontinent und den Rest der Welt sind von unschätzbaren Ausmaßen. Derweil hatte sich Herr W. zwar für karitative Zwecke eingesetzt, war wohl auch ein sympathischer Mensch, und doch ist sein Tod vielleicht ein Fall für die Schlagzeilen von Boulevardzeitungen, nicht aber für die Geschichtsbücher.
Die entrüsteten Reaktionen auf die Aussage von XY, die mediale Aufmerksamkeit und mein subjektives Empfinden lassen eigentlich nur den Schluss zu, dass Herr M. sehr viel wichtiger war als Herr W. Ist das so? Gibt es wichtige und unwichtige Menschen? Kann das sein? Darf das sein? Irgendwie liest es sich seltsam unschön. Vielleicht lag am Ende vor allem XY richtig und bewies mit seiner Gleichgewichtung von Herrn W. und Herrn M. eine humanitäre Einstellung, die wahrscheinlich auch Herr M. begrüßt hätte. Auf mein erstes Kopfschütteln, das XY galt, folgt ein zweites Kopfschütteln, das seinen Kritikern und mir selbst gilt. Und schließlich hört das Kopfschütteln auf. Meinungsfreiheit ist eigentlich eine wunderbare Sache. Allerdings kommt erschwerend hinzu, dass man mit Meinungen umgehen können muss, die sich von der eigenen mitunter deutlich unterscheiden.
Auf einer anderen Internetseite wird die Frage gestellt, welcher Tod betroffener mache, jener von Herrn W. oder jener von Herrn M. Die meisten Antwortenden sprechen sich für Herrn M. aus, vereinzelte für Herrn W., einige kennen beide nicht. Und ein Kommentator meint: Herr W. brachte Millionen von Menschen Freude. Herr M. brachte Millionen von Menschen Terrorismus und Tod. Der Kopf schüttelt wieder. Verfluchte Meinungsfreiheit.

Wow! Ich habe sie grad im herrengedeck gegelesen und nun auch noch diese Auseinandersetzung mir einverleibt, ein schreibstil der freude macht zum mehr lesen. Danke!!!
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Vielen herzlichen Dank fürs Lesen und für deine Worte!!!
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Darf man das Ableben eines Menschen, der immer im Kreis seiner persönlichen Lieben schmerzlich vermisst wird, überhaupt vergleichen und bewerten mit dem Tod eines Anderen? Das ist glaube ich das überrhaupt vermessendste an der ganzen Diskussion. Kein Tod ist es jemals mehr traurig als ein anderer, sondern immer tragisch, egal, wie die öffentliche Meinung Einzelner dazu ist.
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Vielen Dank für deine Gedanken… Ich weiß nicht, was man darf und was man nicht darf. Im Bezug auf den privaten Kreis der Liebsten stellt sich die Frage nach dem Vergleichen wohl weniger. Doch Menschen, die in der Öffentlichkeit leben, sterben auch in der Öffentlichkeit, und dort prallen dann eben Meinungen aufeinander. Für mich persönlich sind gewisse «öffentliche Tode» durchaus trauriger als andere. Wessen Tod nun wie stark betrübt, darf aber jeder selbst entscheiden, denke ich. Aber ja, eigentlich wäre ein Vergleichen sowieso nicht nötig…
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Die Welt verändern wird er nicht, dieser Text. Verfilmt dürfte er auch nicht werden. Aber er verdient eine Verneigung. Und meinen Respekt. Danke! Verneigen tue ich mich dann am Abend…
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Ich danke. Dir. Und freu mich auf die Verneigung, obwohl’s die nicht braucht, und überhaupt bin ich grösser als du, mein Mund drum weiter oben als deiner, also lieber keine Verneigung…
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Ich steh auf einen Stuhl, dann lässt sich der physische Grössenunterschied wett machen. Und vielleicht hebt mich heut Abend auch der Nikolaus hoch, war ja doch ganz artig dieses Jahr.
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Der soll schön die Finger von dir lassen, sonst werd ich dann schlagartig bösartig.
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Wollte doch nur mal am Bart zupfen.
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Huch, wer ist denn der Herr W.? Also von Herrn M.s Ableben habe ich zuverlässig über die Push-Funktion meiner Nachrichten-App gestern Abend erfahren. Herr W. scheint aber tatsächlich weniger bedeutend zu sein. Also: Was hab ich verpasst? Welche Filme muss ich schauen? 😀
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Der vollständige Name von Herrn W. ist in den Schlagworten versteckt… Falls du Verpasstes nachholen willst, wäre es aber wohl lohnenswerter und erhellender, sich vertieft mit Apartheid und Südafrika zu befassen, anstatt einen Film mit Herrn W. zu schauen, und überhaupt kann ich in Bezug auf das Schaffen des Herrn W. leider nicht viel Auskunft geben, The Fast and the Furious hat mich nie interessiert, aber Running Scared war nicht mal schlecht.
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