Die Straße überquert er erst, wenn die Ampel in tiefstem Grün erstrahlt, und wenn die Ampel defekt ist, wird er sehr unsicher und zittert ein wenig. In seinem Kühlschrank sind zehn Thermometer an verschiedenen Stellen, und die Lebensmittel lagert er nur in jenen Bereichen, in welchen die Temperatur für das entsprechende Gut ideal ist. Manchmal steht er im Badezimmer, auf seinem Haupt thront eine Tube Zahnpasta, denn auf deren Rückseite steht geschrieben, man solle die Tube auf den Kopf stellen, also tut er es, ein Reflex, und er weiß, dass es anders gemeint ist, und es sieht auch ziemlich lächerlich aus, aber er kann nicht anders. Er hält sich an die Regeln, denn dafür sind sie da, nichts wird gemacht, um gebrochen zu werden, schon gar nicht Regeln, und er klammert sich an ihnen fest, um nicht zu stolpern, um niemals hinzufallen. Und dann, eines Morgens, sitzt er im Zug, der Zug fährt ruckelnd los, und er bemerkt entsetzt, dass er vergessen hat, eine Fahrkarte zu kaufen. Er wird nervös, seine Lippen beben, ein Bein vibriert unaufhörlich. Immer wieder blickt er sich um, seine Augen platzen vor Angst beinahe aus ihren Höhlen und lauern auf den Schaffner, der jedoch nicht zu sehen ist. Er beginnt zu schwitzen, seine Schläfen pochen, und zwischen ihnen entsteht das Bild eines Polizisten, der ihn verhaftet, die Handschellen klicken, und alle Passagiere starren ihn verächtlich an. Er beißt auf seine Unterlippe und versucht, das Bild zu verdrängen. An der kommenden Station will er aussteigen, zum Fahrkartenautomaten eilen und seine Pflicht tun. Doch der nächste Halt lässt auf sich warten, der Zug pflügt sich unbeirrt durch die Landschaft. Er krallt seine Finger in die Oberschenkel, doch je länger die Zeit zäh die Gegenwart durchfließt, desto mehr lockert sich der Griff, und die Lippen beben immer weniger. Es ist doch gar nicht so schlimm, redet er sich ein, und mit jeder Minute schwindet seine Unfähigkeit, daran zu glauben. Nein, man wird ihn nicht verhaften und vor Gericht stellen. Vielleicht muss er ein Bußgeld bezahlen, vielleicht lässt der Schaffner mit sich reden, und vielleicht taucht er gar nicht auf. Langsam wird er ruhig, und dann hält der Zug, doch er steigt nicht aus, bleibt reglos sitzen, ohne Fahrkarte. Als die Welt wieder vor dem Fenster vorbeizuziehen beginnt, hört er ein leises Knacken, ein gedämpftes Krachen. Er weiß nicht, woher es stammt oder wodurch es ausgelöst wird, doch es wird lauter, und allmählich mag er den Klang. Irgendwann hält der Zug an der Station, an welcher er aussteigen sollte, doch er verharrt in seinem Sessel, und die einzige Regung, die er zeigt, ist ein leichtes Zucken in den Mundwinkeln. Der Zug fährt weiter, Kilometer um Kilometer, die Sonne klettert an einer tiefblauen Wand nach oben, und er sitzt am Fenster, blickt nach draußen und betrachtet die Farben der Welt. Schließlich erreicht der Zug die Endstation, alle anderen Passagiere steigen aus, und endlich kommt der Schaffner. Er müsse nun aussteigen, sagt der Mann mit warmer Stimme, dies sei die Endstation, der Zug fahre heute nirgends mehr hin. Das spiele keine Rolle, erwidert er mit einem Lächeln. Er bleibe nur noch einige Minuten sitzen. Der Schaffner scheint ein wenig verwirrt und nickt zaghaft, verlässt dann den Zug, ohne nach der Fahrkarte gefragt zu haben. Es wird still. Nur das Knacken ist noch zu hören. Er betrachtet seine Finger, krümmt sie zu einer Faust, dreht die Faust vor seinen Augen. Ein süßer Geschmack keimt auf seiner Zunge, seine Arme und Beine kribbeln ganz leicht. Dann lächelt er und steht auf.

*lächel* gegen die eigene Sucht rebellieren und dann gewinnen – toll,
doch glaube ich nicht, daß er es geschafft hätte, KEINE Fahrkarte zu kaufen 🙂
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So ohne Weiteres wäre es ihm wohl nicht gelungen, keine Fahrkarte zu kaufen, ja. Vielleicht war er spät dran und abgelenkt und wollte auf keinen Fall den Zug verpassen… Vielen Dank fürs Lesen und für deine Worte…
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