Bei der Geburt war noch Weite. Da waren unermessliche Dimensionen, und sie wuchsen sogar noch an mit den Jahren, und als man ihr irgendwann sagte, dass die Welt nicht dort aufhöre, wo der Himmel den Baumwipfeln begegne, war sie verwirrt. Schon die Dinge, die sie sehen konnte, passten nicht in ihren Kopf, waren zu üppig, zu vielfältig, zu bunt. Dass darüber hinaus noch so viel mehr existiert, das sich ihrem Auge entzog, überstieg ihre Vorstellungskraft. Einmal kam eine Postkarte aus Amerika, vom Grand Canyon, und sie glaubte durchaus, dass die abgebildete Landschaft der Tatsache entsprach. Dennoch blieb sie abstrakt, fast alles blieb abstrakt. Wenn sie aber abends die Augen schloss, wurden die Steine und Schluchten real, wie ein Vogel schwebte sie über die hellbraunen Felsen unter ihr. Damals hatte sie kein Wort dafür, was sie fühlte, in ihrem Bett und über dem Grand Canyon. Aber es fühlte sich gut an.
Die Stäbe des Käfigs strukturieren die Welt, ein geometrisches Muster, das im Kopf beginnt, während sie vor ihrer Nase die Grenze spürt, die metallische Kälte. Sie weiß, wie groß und weit die Welt ist, sie kennt die Dimensionen, kann sie einschätzen und ermessen. Sie hat viel gelernt, hat viel gesehen, und sie musste Federn lassen, alle mussten Federn lassen. Nun liegt sie irgendwo in einer hellbraunen Postkartenlandschaft, die zwar abstrakt anmutet, aber gleichzeitig seltsam konkret ist. Und wenn sie die Augen schließt, bleiben die Steine und Schluchten real, sie spürt noch immer den harten Felsen unter ihrem Körper, und irgendwo über ihr krächzt ein Vogel. Sie versucht, wieder das kleine Mädchen zu sein, sie versucht zu schweben, doch sie prallt gegen das Gitter, bleibt liegen. Mittlerweile hat sie ein Wort dafür, was sie damals fühlte, in ihrem Bett und über dem Grand Canyon. Nur das Gefühl ist weg.

es ist ein Gefühl, als sei der Käfig in Dir selbst und so ist es wohl auch.
Alle Weite ist zu weit entfernt, bringt kein Wohlsein, die Vielfalt erschlägt.
Dieser Käfig im Innern will fassen, sich an der Weite und Vielfältigkeit bereichern,
aber er schafft es nicht, weil die Stäbe des Käfigs es nicht zulassen…
Mir fällt Rilkes Panther ein, er hatte nicht nur die Stäbe des Käfigs vor sich, sondern
schon lange in sich und sein Blick war leer und ruhelos seine Schritte
Du schaffst es spielend, die Schwierigkeit des Seins in Deinen Texten zu zeigen, lieber Disputnik
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Liebe Bruni, vielen Dank für deine Hinein- und Weiterdenken. Und auch für den Panther, den ich, so glaube ich, vor Jahren einmal las, damals aber wohl weniger darin sah als heute…
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Sehr gut beschrieben, wie aus Weite Enge wird und nicht nur das Gefühl schwindet….
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Vielen Dank fürs Lesen und für deine Worte!
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Hat dies auf ReBlog! Hier findet sich alles was mit gefällt. Über "Kategorie" wirds dann übersichtlich 🙂 rebloggt.
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Vielen Dank für den ReBlog!
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Wie ich es verstehe, sehr schönes Bild und Spiel mit Weite und innerem Gefangensein.
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Die Deutungshoheit liegt in jedem Fall beim Lesenden… Aber ja, das Gefangensein und die verlorene innere Freiheit waren beim Schreiben wohl nicht nur im Hinterkopf… Vielen Dank nochmals…
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was für ein Foto! (und es ist nicht s/w *lächel* ) und
was für Zeilen, wieder einmal; gebannt lese ich sie ein zweites, gar ein drittes Mal; warum weiter von Blog zu Blog hasten, wenn doch hier SOLCHE Zeilen wirkungsvoll von verlorengegangenen Gefühlen sprechen und du merkst, wie dich alles hier Geschriebene plötzlich osmotisch durchdringt und mächtig in dir weiterwirkt…
toll, lieber Disputnik!
Und viele Grüße
vom Finbar
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Sprachlos wie ich bin, bleibt mir nichts zu erwidern und nichts anderes übrig, als mich in Dankbarkeit zu verbeugen, lieber Finbar…
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