Wir nannten ihn den kleinen Polizisten. Klein war er tatsächlich, kaum größer als wir Kinder es damals waren. Und er war alt. Schon immer. Niemand konnte sich vorstellen, dass er einst ein junger Mann gewesen sein musste. Ein Polizist war er derweil nicht. Dennoch trug er eine Uniform. Sie bestand aus einem grauen Jackett, einer schwarzen Hose, viel zu großen Schuhen, einem Hut. Und aus einem schwarzen Regenschirm, den er immer bei sich hatte, selbst im sonnenstrahlenden Hochsommer.
Das Haus, in welchem er wohnte, stand direkt an der Straße, der wir jeweils entlang gehen mussten, um zur Grundschule zu gelangen. Manchmal streckte er seinen Kopf durch eines der kleinen Fenster und grummelte uns etwas entgegen. Wir verstanden zwar seine Worte nicht immer, aber etwas anderes als ein Tadel hätte es sowieso nicht sein können. Der kleine Polizist erachtete es als seine Aufgabe, uns Kinder auf unsere Fehlbarkeiten aufmerksam zu machen und uns Anstand zu lehren. Wer über den Gehsteig rannte, wurde von ihm ebenso zurechtgewiesen wie jene, die immerzu stehenblieben, und wenn man sich so verhielt, wie er es erwartet hatte, manifestierte er seine Skepsis mit einem strengen Blick.
Manche Kinder warfen im Winter Schneebälle an die Fassade seines Hauses. Hin und wieder riss der kleine Polizist daraufhin ein Fenster auf und fluchte über die Straße. Einige Male stürmte er auch aus der kleinen Türe an der Seite des Hauses und überraschte die infantilen Übeltäter mit einer beeindruckenden Agilität und Schnelligkeit, auch wenn er nie ein Kind einzuholen vermochte. Häufig war der kleine Polizist unterwegs. Auf Patrouille. In seinen viel zu großen Schuhen und mit dem schwarzen Regenschirm in der Hand schritt er über den Asphalt, ließ seinen Blick wachsam schweifen und registrierte jede Unachtsamkeit der Passanten, vor allem aber der Kinder, die er umgehend zurechtwies.
Am Tag, an dem ich den kleinen Polizisten kennen lernte, war ich mit Yvonne, dem Nachbarsmädchen, auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten. Wir redeten, wir lachten, und ja, wahrscheinlich begegneten wir dem Straßenverkehr nicht mit einem allzu ausgeprägten Maß an Aufmerksamkeit. Wir hatten gerade eine Straße überquert, natürlich auf dem Zebrastreifen, wie wir es gelernt hatten, da hörten wir plötzlich eine laut krächzende Stimme hinter uns. Ich drehte mich um, und in diesem Moment traf mich ein Schlag. Vor mir stand der kleine Polizist, holte noch einmal mit seinem schwarzen Regenschirm aus und ließ ihn erneut auf meinen Kopf krachen. Dann zeterte er und brüllte mich an, ich solle nie mehr über die Straße gehen, ohne vorher nach links und nach rechts zu schauen. Ich begann zu wimmern, dann zu weinen, und wahrscheinlich versuchte ich noch, mich stammelnd zu rechtfertigen und dem kleinen Polizisten zu versichern, dass ich sehr wohl aufgepasst hatte. Doch dann gab ich meinem Impuls nach und rannte los, Yvonne rannte neben mir her, und erst vor unserem Haus blieben wir stehen.
Später, in der Grundschule, gehörte ich nicht zu jenen Kindern, die dem kleinen Polizisten Schneebälle an die Fassade warfen. Wenn ich ihm begegnete, versuchte ich, möglichst unauffällig einen gewissen Abstand zu wahren und einen unbemerkten Bogen um ihn zu machen. Einmal war dies jedoch nicht möglich. Es war ein kalter Wintertag, die Wege waren von Eisflächen bedeckt. Ich war auf dem Weg nach Hause, als ich den kleinen Polizisten erblickte, der mir entgegenschritt. Er war nur noch wenige Meter entfernt, und ich suchte bereits nach einer Möglichkeit, ihm weitestgehend auszuweichen, als er unvermittelt zu tanzen begann. Zumindest schien es so. Tatsächlich war er auf dem eisigen Boden ausgerutscht und versuchte, einen Sturz zu vermeiden. Es gelang ihm nicht, und sein kleiner Körper prallte wie ein nasser Sack auf den gefrorenen Asphalt. Ich blieb stehen und starrte reglos auf den kleinen Polizisten, der sich unter stetigem Ächzen bemühte, wieder aufzustehen. Er stützte sich auf seine dünnen Arme, klammerte sich an seinen schwarzen Regenschirm, suchte hilflos nach Halt. Ich verspürte den starken Drang, mich in Luft aufzulösen, doch nachdem es ihm auch nach mehreren Versuchen nicht gelungen war, wieder auf die Beine zu kommen, trat ich vorsichtig zu ihm hin und bot ihm meine Hilfe an. Er klammerte sich an meinen Arm, zog sich hoch und klopfte den Schmutz vom grauen Jackett. Dann angelte er seinen Regenschirm vom Boden und taumelte weiter, ohne auch nur ein Wort zu sagen.
Nach diesem Tag hörte ich auf, einen Bogen um den kleinen Polizisten zu machen. Er war noch immer häufig unterwegs, doch erstaunlicherweise hatte ich das Gefühl, seinen wachsamen Blicken nicht mehr ausgesetzt zu sein und keine Zurechtweisungen mehr befürchten zu müssen.
Er war schon damals alt, sehr alt sogar. Doch irgendwie mag ich nicht glauben, dass er mittlerweile gestorben ist. Und wenn ich zurückkehre in das Dorf, in dem ich aufwuchs, sehe ich ihn auf der Straße und zwischen den Häusern. Unentwegt auf Patrouille. In seinem grauen Jackett, seiner schwarzen Hose, seinen viel zu großen Schuhen, seinem Hut. Und mit seinem schwarzen Regenschirm in der Hand.

Ein sehr schöner Text!
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Vielen lieben Dank!
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Lieber Disputnik, wieder eine so schöne Geschichte die mich an meine Kindheit erinnert.
Ja, auch in meiner Straße gab es so jemanden und auch ich kann mir kaum vorstellen dass er nicht mehr lebt.
ER hatte einer Behinderung und ging mit seinen krummen Beinen am Krückstock und oft nässte er sich ein.
Wir Kinder erfuhren, er sei „als Kind vom Wickeltisch gefallen“.
Dafür tat er mir leid.
Erst als fast Erwachsener, als ich diese Straße meiner ersten sechs Lebensjahre wieder besuchte, erinnerte ich mich eines Tages an diese „Aufklärung“ und mir wurde klar dass es sich nur um eine Respektlosigkeit gehandelt hat.
Da wo die Schlachterei war, wo ich immer ein Stückchen Wurst über den Tresen gereicht bekam, steht heute ein Wohnhaus.
Den Teich gibt es nicht mehr, wo das verwunschene Haus mit Efeu berankter Fassade stand. Heute steht dort ein großer Wohnblock.
das Freibad ist nicht mehr da und auf dem Gelände steht eine Neubausiedlung.
Das kleine Häuschen in dem wohl die Chloranlage war ist auch weg.
Und wo ist jetzt der Butzemann, der in diesem Häuschen wohnte und mir immer so viel Angst machte….
Bald bin ich vielleicht dieser kleine Polizist.
Ob ich wohl kleine Kinder ansprechen mag wenn ich älter bin, oder werde ich die argwöhnischen Blicke der jungen Eltern in meinem Nacken spüren, die mich nicht kennen und mir alles zutrauen. Die nicht grüßen, nichts wissen von meiner Einsamkeit, von meinen Erinnerungen an meine Kindheit, die nicht wissen dass ich wünschte es gäbe auch hier in der Stadt noch einen kleinen Schlachter der den Kindern ein Stückchen Wurst reicht und der sich wünscht es wäre normal miteinander zu sprechen und sich von Kindern auf der Straße erzählen zu lassen was sie heute so erlebt haben.
Hoffentlich ist es nicht noch schlimmer und die Leute rechnen mir vor, dass für zwei meiner Sorte aufkommen müssen, damit ich was zu essen habe und wie lang ich eigentlich noch auf ihre kosten spazieren gehen will.
Als Polizist hätte ich wenigstens noch einen Sinn.
Wenn schon niemand mit mir spricht, so kann ich vielleicht en Leben retten, dass der Raser in seinem aufpollierten SUV so leichtfertig gefährdet.
Eines Tages bin ich nicht mehr da.
Wer wird sich dann um Ordnung kümmern…..
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Lieber Joachim, vielen lieben Dank für deine Worte, für eine Erinnerungen, deine Gedanken. Ja, da ist einerseits die Gewissheit, dass all die Dinge, die einst waren und das Leben prägten, irgendwann aufhörten zu existieren. Und da ist andererseits die Ungewissheit, was eigentlich in Zukunft noch bleiben wird, was man sein wird, in den eigenen Augen und jenen der anderen. Und irgendwo zwischen der Gewissheit und der Ungewissheit stehen wir und stellen uns die Fragen, auf die es keine Antwort gibt… Nochmals vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren…
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