Die Buchstaben, sie weinen manchmal. Denn ab und zu bilden sie Wörter und Sätze, die sie bis ins Mark mit Traurigkeit erfüllen. Zum Beispiel, wenn sie erzählen, wozu Menschen fähig sind.
Einmal, da bildeten die Buchstaben einen hübschen Namen, den Namen eines Mädchens, und in den folgenden Sätzen verdeutlichten die Buchstaben, dass nicht nur der Name, sondern auch das Mädchen selbst ausnehmend hübsch war. Mit jedem Wort wurde das Bild klarer. Ein Bild, auf dem eben dieses hübsche Mädchen zu sehen war, wie es in einer friedlichen, schönen und erfüllenden Welt lebte. Ein Bild, das von der Kindheit erzählte, vom Versteckspielen mit den Nachbarskindern, von Schneehütten und gestauten Bächen, von der grenzenlosen Freiheit im Kopf, von der Unschuld vergangener Tage. Und die Buchstaben, sie ahnten bereits, dass diese Unschuld ein Ende finden würde, doch sie wussten noch nicht, wie jäh und brutal dies geschehen sollte.
Als sie einen Mann vorstellen mussten, einen nahen Verwandten des Mädchens, und dessen Weg sich mit jenem des Mädchens zu kreuzen hatte, da wuchs ihre Besorgnis, und sie wuchs mit Recht. Denn der Mann, den sie zu Beginn in durchaus freundlichen Worten beschrieben, wandelte sich innerhalb weniger Sätze zu einem Räuber. Nur zu gerne hätten die Buchstaben von entwendeten Autos oder Handtaschen erzählt, doch der Mann, er stahl keine Dinge, keine Gegenstände. Als ihnen bewusst wurde, dass sie noch einmal die Unschuld des Mädchens zur Sprache bringen mussten, kroch ein Würgen in ihre Hälse.
Über mehrere Zeilen und Absätze hinweg blieb den Buchstaben keine andere Wahl, als in detaillierter Weise die Raubzüge des Mannes zu schildern. Ohnmächtig stolperten sie über Kommas und Punkte, und jedes Wort, das sie zu formen hatten, ließ die Wut und die Traurigkeit in ihnen anschwellen. Benommen hielten sie sich aneinander fest, waren kaum mehr in der Lage, sich in geordneten Reihen zu gliedern, und alsbald zerfielen die Sätze in marode Fragmente, in spärliche Bruchstücke. Bis schließlich kein Buchstabe mehr fähig war, die Ereignisse in Worte zu fassen.
Als ihre Tränen getrocknet waren, versuchten die Buchstaben, das Leben des Mädchens wieder in Sätze zu kleiden, ein Bild zu skizzieren, das seine Welt zeigte und von der grenzenlosen Freiheit im Kopf erzählte. Doch es gelang ihnen nicht, wie sehr sie sich auch bemühten. Das Bild, es blieb karg und düster, mit entsättigten Farben und zahllosen dunklen Flecken. Immer wieder suchten die Buchstaben nach Erklärungen, nach Auswegen, nach neuen Perspektiven. Doch alles, was sie fanden, war das Vakuum, das die Unschuld vergangener Tage nach ihrem Ende hinterlassen hatte. Seither lastet auf jedem Buchstaben das Gewicht der Vergangenheit, jedes Wort liegt träge und schwer in den Zeilen, mit denen sie das Leben des Mädchens weiterschreiben. Manchmal weinen sie gemeinsam, das Mädchen und die Buchstaben. Und das Papier, es wellt sich immer mehr.

Eine wunderschöne, berührende Geschichte – ein phantasievolles Malen mit Wörtern, das trotz dieser Schönheit das Grauen nicht versteckt. Ich würde diese Geschichte gern in meinem blog teilen bzw. meinen Kollegen_innen (Gewaltberater_innen, Therapeuten) mitteilen, ihnen vorlesen und bitte um deine Erlaubnis
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Lieber Wolfgang, herzlichen Dank für deine Worte! Natürlich darfst du die Geschichte gerne teilen und mitteilen, es ehrt mich, wenn daraus eine Diskussion oder auch nur ein Gedankengang entstehen sollte. Als Verfasser kannst du entweder meinen Decknamen (disputnik) oder den Echtnamen (Ralf Bruggmann) angeben… Vielen lieben Dank nochmals!
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das ist auch ein traum von einem foto: welch ausdruck!
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Ja, nicht wahr? Sehr schön, ausdrucksstark und tief…
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und das Papier wellt sich immer mehr…
grandios, wie Du das Geschehen beschreibst.
Was haben sie schon alles beschreiben müssen, diese Buchstaben, mit denen wir so sorglos umgehen. Jedes Ereignis hinterließ seine Spuren und eine lange Geschichte tragen sie alle mit sich. Sie brechen aber nicht unter der Last zusammen, nein, sie kämpfen immer weiter, wissen um ihre Aufgabe, uns zu informieren. Manchmal lächeln sie auch, dürfen von Liebevollem berichten, doch hier ist es eine Geschichte, die uns immer wieder erschüttert, immer wieder und wieder passiert und es ist jedesmal aufs Neue unfassbar, unerträglich und wir schreien laut und versuchen an uns selbst zu rütteln, wir schämen uns für die Gattung Mensch, die sich gebährdet, als sei sie des Teufels Geschöpf, einzig auf der Welt, um anderen Leid zuzufügen und auszulöschen, Freude und die sogenannte „Menschlichkeit“.
Wütende Grüße – immer wieder aufs Neue, wenn ich davon lese –
von Bruni
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Vielen Dank, liebe Bruni…
Ja, es ist oftmals unerträglich und beschämend, was die Buchstaben über uns Menschen zu berichten haben. Auf der anderen Seite gibt es auch die Dinge, die so schön sind, dass sie Buchstaben gar nicht zu beschreiben vermögen. Aber tatsächlich machen Geschichten wie im Text oben immer wieder wütend und fassungslos. Machtlos.
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lieber schreibfreund, WAS für buchstabendörfer hast du wieder mal gemalt … ich bin ganz und gar – buchstäblich – hin- und hergerissen, von ihnen gefangen genommen…
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Lieber Finbar, herzlichsten Dank für dein Hin- und Hergerissensein und den Kommentar…
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