Sie erwachte, weil ein Spatz gegen ihr Schlafzimmerfenster geflogen war und nun lauthals sein Schicksal beweinte. Noch ein wenig benommen rieb sie ihre Augen und stand auf, öffnete das Fenster und reichte dem Spatz ein Taschentuch. Dann ging sie in die Küche.
Eine Kaffeemaschine ist eine gute Sache. Leider hatte sie keine, und so musste sie sich auch an diesem Morgen einen Topf mit Wasser erwärmen, welches sie dann in eine Tasse mit Instant-Kaffee leerte. Sie setzte sich an den kleinen Küchentisch und blickte aus dem Fenster. Draußen marschierten unzählige Soldaten im Gleichschritt über den Bürgersteig. Sie schritten nicht nur gleich, sondern sahen auch alle gleich aus, was sowohl für die textile Uniformierung als auch für den Ausdruck in ihren Gesichtern galt. Sie fragte sich, ob sie ihre Liebe wohl ganz verloren oder nur irgendwo deponiert hatten, als sie einen Soldaten bemerkte, der sich von der Masse abhob und am Straßenrand stand, wo er irgendetwas zu basteln schien. Sie beobachtete ihn und stellte fest, dass er ein Papierflugzeug faltete. Schließlich schleuderte er es in ihre Richtung, und er schleuderte es ziemlich kraftvoll, denn es zerbrach ihr Küchenfenster und landete auf dem kleinen Tisch, an dem sie saß. Ziemlich überrascht stellte sie ihre Kaffeetasse ab, griff nach dem Flugzeug und entfaltete es.

«Wir haben das Wissen. Wir haben mehr als genug davon. Was uns fehlt, ist das Gewissen. Wissen ist Macht, wusste schon Francis Bacon vor über 400 Jahren. Und wenn Macht kein Gewissen hat, ist das gefährlich. Wir wissen, wohin uns die gewissenlose Macht führt. Doch unser Gewissen ist nicht genügend ausgeprägt, um die gewissenlose Macht machtlos zu machen. Wissen und Gewissen sind Geschwister, nicht nur im geflügelten Wort. Aber sie sind zerstritten. Vor allem das Gewissen leidet unter diesem Streit, und wenn wir ihn nicht schlichten, wird das Gewissen bald nicht mehr wissen, warum es noch leben soll.»
Sie machte sich noch einen Kaffee und las die – offensichtlich auf einer alten Schreibmaschine getippten – Worte auf dem Papier ein weiteres Mal. Ganz am Schluss hatte der Soldat handschriftlich noch etwas angefügt: «Begehrt auf! Bevor es zu spät ist!» Sie biss sich auf die Unterlippe und fragte sich, ob das jetzt ein Gewissensbiss gewesen sei. Draußen marschierten noch immer Uniformierte vorbei, doch derjenige, der das Flugzeug in ihre Küche geworfen hatte, war nicht mehr zu sehen oder hatte sich wieder in die gesichtslose Masse gefügt. Warum sollte sie aufbegehren? Und wie sollte sie das tun? Sie konnte sich ja schlecht auf die Straße stellen und den mächtigen Soldatenauflauf einfach so stoppen. Das lag nicht in ihrer Macht.
Sorgsam sammelte sie die Scherben auf dem Küchentisch zusammen, als ihr plötzlich der Spatz in den Sinn kam, der sie geweckt hatte. Von einem schlechten Gewissen geplagt eilte sie in ihr Schlafzimmer und hin zum Fenster. Doch der Vogel war nicht mehr da. Scheinbar hatte er sich von seinem Aufprall erholt. Auf dem Fensterbrett lag noch das zusammengeknüllte Taschentuch und außerdem ein kleiner Zettel, auf dem in zittriger Schrift das Wort «Danke» geschrieben stand. Sie lächelte und horchte, ob sie vielleicht das Gezwitscher des Spatzes vernehmen könnte. Aber sie hörte überhaupt keinen Vogelgesang, was sie verwunderte und betrübte.
Zurück in der Küche bemerkte sie einen beißenden Geruch, der durch das zerbrochene Fenster wehte und ihr im Schlafzimmer, das auf der Rückseite des Hauses lag, nicht aufgefallen war. Sie blickte hinaus auf die Straße, wo noch immer Hunderte von Soldaten vorübermarschierten, doch sie konnte nichts erkennen, das die Ursache für die Irritierung ihre Riechorgans hätte sein können. Der Geruch war ihr vollkommen unbekannt, er erinnerte weder an Verbranntes noch an Essen, war weder süß noch herb. Sie warf prüfende Blicke in alle Richtungen, wobei ihr auffiel, dass die Menschen in den umliegenden Häusern zunehmend ihre Fensterläden schlossen. Angesichts der nicht gerade schön anzuschauenden Prozession auf der Straße und des unangenehmen Geruchs schien ihr dies eine gute Idee zu sein, und sie tat es ihnen gleich. Zuvor warf sie noch das Papierflugzeug nach draußen. Dann suchte sie einige alte Plastiksäcke zusammen und klebte sie an den Fensterrahmen, dessen Glas das Flugzeug zerbrochen hatte. Schließlich schloss sie auch in den anderen Räumen sämtliche Fensterläden, obwohl sich ein wunderschöner Sonnentag ankündigte. Doch man kann nie wissen.