Im Zug neben mir eine Nonne, Schweisstropfen auf ihrer Stirn, es muss heiss sein unter den vielen Tüchern, ihre Hände sind verschränkt, ein Klischee, die Haare dunkel, es gibt kaum blonde Nonnen, so denke ich, auch das ein Klischee, doch sie, neben mir, verkörpert es perfekt, nur der Blick passt nicht ins Bild, er ist nicht gütig, er wirkt nicht fromm, eher traurig, leer, bitter; vielleicht ist eine Schwester gestorben, vielleicht bereut sie ihre Hinwendung zu Gott, vielleicht ist sie nur schlecht gelaunt oder die Hitze drückt auf ihr Gemüt, ich weiss es nicht und frage nicht nach, frage nicht sie, sondern mich, was sie antreibt, was sie quält, was sie freut, was sie ängstigt, und ich scheitere beim Versuch, mögliche Antworten zu finden; jede Biografie, die ich ihr andichte, muss falsch sein, ihre Haut ist eine Hülle, in die ich mich nicht hineinzudenken vermag, weil das, was ihr am wichtigsten ist, für mich nicht existiert, und ich schäme mich ein wenig, weil ich mir überlege, was sie aufgrund ihrer Entscheidung verpasst haben muss im Leben, während sie selbst wohl keine Versäumnisse sehen dürfte, ihre Tage waren erfüllt, wahrscheinlich jeder einzelne, und ich verstehe es nicht, doch sie hat es mir voraus, und ich lächle gequält, meine Augen verharren in ihren Höhlen, und sie, die Nonne, sie sieht mich an, erwidert das Lächeln, ihres ist echt, sie sieht zufriedener aus als zuvor, und auch das hat sie mir voraus.
