«The world was ordained to endure, as all learned men affirm, 6000 years. Now of that number there be passed 5552 years, so that there is no more left but 448.»
Hugh Latimer, Bischof und Märtyrer, 1552 A.D.«Darin besteht die Liebe: Dass sich zwei Einsame beschützen und berühren und miteinander reden.»
Rainer Maria Rilke
Eine Wiedergeburt ist schon seltsam. Es ist nicht einfach, mit der Tatsache umzugehen, dass man zwei Leben hat, die in der Chronologie nacheinander stehen. Während 24 Jahren wusste ich nichts vom anderen Teil meiner Existenz, doch jetzt blicke ich zurück auf ein erstes Dasein mit all seinen Eindrücken und Erlebnissen und auf ein zweites Leben, in dem sich immer mehr Erinnerungen anhäufen. Manchmal vermischen sich die beiden Welten, doch in der Regel ist die Grenze klar, die Unterschiede zu evident.
Das erste Mal geboren wurde ich im Jahr 1976 in einem kleinen Städtchen in einem kleinen Land in der Mitte von Europa. Gott, meine Eltern und die Natur entschieden in seltener Einigkeit, dass ich ein Mädchen werden sollte, während meine Meinung in die andere Richtung ging, aber offensichtlich nicht von Belang war. Gegen die anatomischen Gegebenheiten der Weiblichkeit konnte ich mich nicht gut wehren, doch ich widersetzte mich den Klischees, denen man als Mädchen gerecht werden sollte.
Nachdem ich die dritte demonstrative Enthauptung vorgenommen hatte, schenkten mir meine Eltern endgültig keine Puppen mehr, ich wünschte mir nie ein Pony, sondern eine Vogelspinne, die ich jedoch nie bekam, und bei Raufereien auf dem Schulhof drückte ich mich nicht wie die andern Mädchen an die Wand, sondern stürzte mich mitten hinein.
Viele Leute sagen, die Jugend sei die schönste Zeit im Leben. Mir sollten sie das besser nicht erzählen, denn ich würde ihnen wahrscheinlich ins Gesicht schlagen. Meine Teenagerjahre waren geprägt von dem Gefühl, die falsche Person in einem falschen Körper zur falschen Zeit an einem falschen Ort zu sein. Und vier Mal falsch ist noch zurückhaltend kalkuliert.
Die Trostlosigkeit des jungen Mädchens, hinter dem ich mich verbarg, zeigte sich nicht zuletzt in den Veränderungen, welchen das weibliche Geschlecht unterworfen ist. Das erste Einsetzen meiner Menstruation quittierte ich mit der wachsenden Überzeugung, dass etwas mit mir nicht stimmte, und als sich meine Brüste bildeten, begann ich, weite Pullover zu tragen und die Schultern unbewusst nach vorne zur drücken. Während meine Klassenkameradinnen ihre ersten Freunde hatten und allmählich die Untiefen ihrer aufkeimenden Sexualität erkundeten, spielte ich mit den Jungs Fussball und verlor mich in einem Strudel aus Verwirrung und Angst.
Meine Jungfräulichkeit verlor ich kurz vor meinem zwanzigsten Geburtstag an einen zehn Jahre älteren Mann namens Georges, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Ruf der Franzosen als Liebhaber aufzupolieren und mit jeder Frau zu schlafen, die seine Wege kreuzte. Diese Tatsache erklärt auch, weshalb ich den Geschlechtsakt nicht unbedingt als angenehm oder gar als Versprechen für eine lustvolle Zukunft empfand, und entsprechend hielt ich mich danach von intimen Kontakten zu Männern fern. Die Balzrituale der sexuell aktiven Bevölkerungsschichten waren mir zunehmend suspekt, und ich war überzeugt, dass ich absolut nichts verpasste, wenn ich meinen Intimbereich zum Sperrgebiet erklärte. Entsprechende Angebote häuften sich zwar, da ich mich ungewollt zu einer überraschend schönen Frau entwickelt hatte, aber ich bewahrte mir meine Defensivität.
Vielleicht war es eine Kompensation des fehlenden Liebeslebens, dass ich mich immer mehr für Esoterik und Religion interessierte. Nachdem mir das Christentum schon während meiner Jugend nichts mehr geben konnte, suchte ich im Buddhismus und Hinduismus nach Antworten auf Fragen, die ich nicht kannte, was aber keine Rolle spielte, da meine Suche sowieso erfolglos war. Auch die Hinwendung zum Sikhismus und Jainismus sowie zu einigen Ethnoreligionen erfüllte mich nicht mit Zufriedenheit. Schliesslich wurde ich zur kompletten Fatalistin und entwickelte ein besonderes Interesse an Prophezeiungen und Weltuntergangstheorien.
Der Oxforder Märtyrer und Bischof Hugh Latimer schrieb im Jahr 1552: «Die Welt ist, wie jeder gelehrte Mensch bestätigen kann, dazu bestimmt, 6000 Jahre zu überdauern. Von diesen sind bisher 5552 Jahre verstrichen, so dass der Erde nur noch 448 Jahre bleiben.»
Ich schenkte dieser Prophezeiung lange Zeit keinen Glauben, vielleicht aus Angst vor der so kurz bevorstehenden Apokalypse. Dann erfuhr ich, dass am 5. Mai 2000 die Planeten Mars, Saturn, Jupiter, Merkur, Venus sowie Sonne und Mond sich nahezu in einer Linie hintereinander aufreihen. Und dass diese Konstellation der Auslöser für verheerende Flutwellen, Erdbeben und Vulkanausbrüche sei, da sich die Gezeitenkräfte der sieben Himmelskörper zu einem Energietrichter bündeln würden. Ich zweifelte schon immer an Zufällen, doch in diesem Fall war ich mir sicher, dass die Voraussagung stimmte und eine Flucht vor dem Schicksal nicht mehr möglich sei.
Ich begann damit, mein Leben auf den bevorstehenden Weltuntergang hin zu dekonstruieren. Meine Wohnung kündigte ich auf Ende April 2000, ebenso meine unterbezahlte Anstellung als Kassiererin bei einem Lebensmittelgrosshändler, und meine wenigen Habseligkeiten verkaufte, verschenkte oder entsorgte ich. In den ersten Tagen im Mai verabschiedete ich mich von meinen Eltern, die schon lange aufgehört hatten, mir Verständnis entgegenzubringen. Sie verdrehten ein wenig ihre Augen, und als ich sie noch einmal auf das Ende der Welt hinwies, lachten sie mich aus.
Mein Lebensstil hatte dazu geführt, dass Freundschaften gar nicht entstehen konnten und ich nur wenige Bekannte hatte, denen ich Lebewohl sagen musste. Nachdem ich auch von ihnen nur Schulterzucken erhalten hatte, war ich bereit für den Weltuntergang.
Doch der Weltuntergang kam nicht. Der 5. Mai 2000 ging einfach an mir vorbei, während ich auf einem Hügel sitzend vergeblich darauf wartete, dass irgendetwas geschah. Es war ein sonniger Tag, und ich hatte am frühen Morgen eine Decke auf der Wiese ausgebreitet. Als es bereits wieder dunkel war, begann ich erstmals daran zu zweifeln, dass Hugh Latimer und die astronomischen Theoretiker Recht hatten. Dennoch blieb ich auf meiner Decke und verharrte in meiner Erwartungshaltung. Bis ich schliesslich einschlief.
Am 6. Mai 2000 wurde ich zum zweiten Mal geboren. Ich merkte es nicht sofort, denn zuerst rieb ich mir einen unbequemen Freiluftschlaf aus den Augen und musste mich dann daran gewöhnen, dass die Welt noch existierte, was mir ziemlich schnell gelang, denn mein Rücken schmerzte, mir war kalt, und irgendein Insekt schien die Nacht damit verbracht zu haben, meinen Körper zu erkunden. In diesem jämmerlichen Zustand und mit der Wirklichkeit konfrontiert, dass ich mein bisheriges Leben abgeschlossen hatte, brach ich in Tränen aus und schien alles nachholen zu wollen, was ich in der Vergangenheit nicht beweint hatte. Ich weiss nicht, wie lange ich auf der Decke vor mich hin wimmerte, und ich weiss nicht, wie lange es noch gedauert hätte, wenn er nicht gekommen wäre. Ich weiss nur, wie glücklich ich bin, dass er kam.
Ich hatte ihn weder gesehen noch gehört, doch plötzlich war er da und umarmte mich. Er sprach kein Wort, sondern hielt mich in seinen Armen und drückte mich an sich. Zum ersten Mal war mir die Nähe zu einem Menschen nicht unangenehm, ich fühlte mich seltsam sicher, obwohl ich noch nicht einmal sein Antlitz gesehen oder seine Stimme gehört hatte. Ich verlor mich in dieser Umarmung, und gleichzeitig fand ich mich. Mich oder ein neues Ich. Und ich fand ihn. Als ich mich allmählich wunderte, an wessen Brust ich mich lehnte, stiess ich ihn leicht von mir weg, um ihn ansehen zu können. Er war nicht viel grösser als ich, ein paar dunkle Strähnen fielen in ein freundliches Gesicht mit warmen Augen, die mich fixierten, ohne zu starren. Auf seinem Mund erschien ein zaghaftes Lächeln, und in diesem Moment wurde ich endgültig neu geboren. Sämtliche Muskeln in meinem Körper entkrampften sich, und ich spürte, wie das Gewicht eines ganzen Lebens von meinen Schultern wich. Wir schwiegen, und ich fügte mich wieder in diese unendlich tröstende Umarmung.
Später begann er dann doch noch zu sprechen. Zwar tat er es nicht allzu oft, aber wenn, dann zeigten sich in seinen Worte ein überaus wacher Intellekt, viel subtiler Humor und eine Liebenswürdigkeit, die ich zuvor nie erfahren hatte. Er hörte mir zu, wenn ich mit ihm sprach, und ich sprach viel, ich breitete mein erstes Leben in allen Einzelheiten vor ihm aus, ohne dass er ein Urteil über mich fällte oder ein Verständnis heuchelte, das es wohl gar nicht geben kann. Auch erzählte er viel aus seinem Leben, was manchmal ziemlich traurig klang. Ihm waren Dinge zugestossen, die ich nur aus den Büchern kannte, die meine Mutter liest und die im Untertitel von Erschütternden Beichten oder Erfahrungen künden. Mehr will ich darüber nicht schreiben, denn ich will, dass er liest, was ich hier schreibe, will ihm zeigen, was ich ihm zu verdanken habe. Meine zweite Geburt war der Anfang des Lebens, das ich heute lebe, und es ist ein Leben, das ich mir vor dem Weltuntergang nicht hatte erträumen können.
Ich bin nun sechs Jahre alt, auch wenn mein Reisepass etwas anderes behauptet. Und ich bin glücklich. Jeden Morgen, wenn ich meine Augen öffne, erblicken diese das Gesicht der Liebe, das Gesicht des Mannes, der mir mein zweites Leben schenkte. Es liegt mir fern, in das Reich von Zuckerwatte und herzförmigen Pralinenschachteln zu entschweben, denn die Liebe ist nicht immer einfach, und die romantische Perfektion existiert nicht. Manchmal kollidieren die Zeiten. Seine Vergangenheit, meine Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Doch diese Gegenwart ist es, die mir Kraft gibt, diese Zukunft ist es, die mir Mut macht. Ich habe gelernt, meinen Gefühlen Raum zu geben, sie in Worten, aber vor allem in Bewegungen, in Gesten oder Taten auszudrücken. Und ich habe gelernt, meinen Körper als Geschenk zu betrachten, als etwas Lebendiges. Zu Beginn tat ich mich schwer, ihn zu entdecken, ihn zu erkunden. Ich musste mich zuerst an den Geruch eines Mannes gewöhnen, musste lernen, mich auf ihn einzulassen, ihm zu vertrauen. Doch mittlerweile geniesse ich die Sexualität, all die Berührungen und Empfindungen. Davon zeugt nicht zuletzt das Kind, das in meinem Bauch heranwächst.
Er hat mir nie erzählt, was er am Morgen des 6. Mai 2000 auf jenem Hügel gemacht hat. Irgendwie habe er Lust auf einen Spaziergang verspürt, antwortet er jeweils auf meine Frage, mit der ich ihn beharrlich bedränge. Vielleicht sollte ich aufhören, sie zu stellen.
Michael Drosnin, Autor des Buches Der Bibelcode, glaubt, in den fünf Büchern Mose eine geheime Botschaft entdeckt zu haben, aus der hervorgeht, dass im Jahr 2012 ein Komet auf der Erde einschlagen und alles Leben vernichten wird. Michael Drosnin ist doof. Und ziemlich sicher ist er nicht verliebt.

Halt trotzdem gut.
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Irgendwie verpasst. Speziell. Speziell gut.
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Ist halt schon recht alt. 2006 oder so.
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