Ein Hund bellt in der Ferne. Er klingt traurig, seltsam müde. Er klagt und klagt an, wen oder was auch immer. Vielleicht liegen seine Besitzer im Bett, trunken von billigem Bier und schlechtem Fernsehen, und all der Schmutz in ihrem Leben verstopft ihre Ohren, lässt sie taub werden und das Winseln ungehört verhallen. Vielleicht auch nicht. Es ist mir egal. Zwar ist das Bellen das einzige Geräusch, das in meine Stille schneidet, doch es bleibt aussen vor, verliert sich in der Dunkelheit der Nacht, dringt nicht ein. In mir ist es ruhig. Im Moment.
Vor wenigen Stunden tobte dort ein Sturm. Womöglich ist dies eine übertrieben pathetische Umschreibung. Aufgewühlt wäre wohl ein treffenderes Wort. Aufgewühlt von einem Ereignis, das in Wortkleid gehüllt erschreckend banal wirkt. Aufgewühlt von einigen Sekunden, die Ewigkeiten dauerten und dennoch so flüchtig waren. Aufgewühlt von der Erkenntnis, wie nahe sich entgegengesetzte Pole zuweilen kommen können. Aufgewühlt vom Gefühl, unter der eigenen Haut völlig haltlos umhergeschleudert zu werden. Vielleicht ist der tobende Sturm doch passend.
***
Angefangen hatte der Abend mit einem unerbittlichen Kampf, meinem Kampf gegen die Schüchternheit, den ich schon so oft gefochten und noch nie aus eigener Kraft gewonnen hatte. Heute ging ich als Sieger hervor, dank der Unterstützung einer beträchtlichen Menge Wein – und dank ihr. Alisa.
«Du redest nicht viel, oder?» fragte sie, obschon sie die Antwort bereits wusste, hatte ich doch mit meiner Wortkargheit für einige Momente des Schweigens gesorgt.
«Nein. Mir fehlen oft die Worte.»
«Manchmal braucht es sie gar nicht, die Worte. Ich finde es jedenfalls nicht schlimm, dass du nicht sonderlich redselig bist. Im Gegenteil», sagte sie mit einem Lächeln und beraubte mich meiner bereits vorbereiteten Frage.
«Das freut mich», gab ich zögerlich zurück. «Wirklich. Die meisten Menschen fühlen sich irgendwie irritiert, wenn ich die Sätze so sparsam setze. Es ist ihnen unangenehm, was wiederum mir unangenehm ist, weshalb ich in der Folge noch weniger rede.»
«Ich bin nicht die meisten Menschen», entgegnete Alisa mit ihrer warmen Stimme, deren Klang mich seltsamerweise an einen lauen Sommerabend erinnerte, an welchem sich die Sonne hinter Wolkenresten zur nächtlichen Ruhe bettete. «Ich bin ich. Ich mag es, wenn du sprichst. Und ich mag es, wenn du es nicht tust.»
Natürlich schwieg ich daraufhin. Ich hätte nicht gewusst, was ich erwidern sollte, doch ich bemühte mich auch nicht, es herauszufinden, sondern liess ihre Worte in meinen Ohren tanzen, während meine Lippen versuchten, sich zu einem dankbaren Lächeln zu formen.
***
Ich hatte mich schon vor Jahren, als wir im selben Büro arbeiteten, in Alisa verliebt, meine Gefühle jedoch wie ein fragiles Glasgebilde in einem Geheimfach verstaut, damit ihnen nichts passieren konnte, und nachdem wir uns aus den Augen verloren hatten, warf ich den Schlüssel zum Geheimfach in das dunkle Meer aus Erinnerungen, das eigentlich eher einem trüben Teich glich.
Vor einigen Tagen waren wir uns am Bahnhof begegnet, und nachdem wir uns gegenseitig der Freude über dieses Wiedersehen versichert hatten, lud sie mich ein, zu einem Abendessen in ihrer Wohnung am Stadtrand. Ich war zu überrascht und zu euphorisch, um ihr Angebot zu überdenken, geschweige denn abzulehnen.
***
«Es ist schön, dass du hier bist», flüsterte sie in die Stille, die auf das Ende der CD von Beth Orton gefolgt war, die ich ihr damals am letzten Arbeitstag im Büro geschenkt hatte. Wir sassen auf ihrer Couch, unsere beiden Weingläser berührten sich beinahe auf dem kleinen Holztisch vor unseren Füssen. «Ich habe oft an dich gedacht.»
Mein Blick fiel zu Boden und heftete sich an einen Kratzer im Parkett, während ich vergeblich versuchte, mein Gesicht vor dem Erröten zu bewahren. Ihre Aussage breitete sich schwallartig in meinem Kopf aus und liess mich ein wenig zittern, ein wenig schwitzen, ein wenig länger als nötig schweigen.
«Ich habe auch an dich gedacht. Immer wieder.» Ich wollte ihr von dem Leerraum erzählen, den ihr Fortgehen hinterlassen hatte, doch als ich in ihre Augen blickte, versagte meine Stimme, einmal mehr.
«Arbeitest du noch immer dort?» wollte sie nach einem kurzen Räuspern wissen.
«Nein. Ein paar Monate, nachdem du gegangen bist, hab ich gekündigt. War nicht mehr schön da ohne dich.»
Ich wusste, dass sie glaubte, dass ich dies nicht so meinte, wie ich es sagte. Doch ich wusste ebenfalls, dass ich es, als ich es sagte, auch genau so meinte. Sie lächelte, und ich versuchte, es ihr gleichzutun. Für einige Sekunden oder Ewigkeiten gaben sich unsere Blicke einer stummen Umarmung hin, was in mir das Gefühl auslöste, dass mein Inneres nicht genügend Platz hatte und der engen Begrenzung durch die Haut zu entfliehen versuchte. Hastig griff ich nach meinem Weinglas. Es war noch beinahe halb gefüllt, doch ich leerte es in einem Zug.
«Du bist noch immer wunderschön.» Kaum hatte ich dies gesagt, bereute ich es. Nicht etwa, weil es nicht stimmte. Es war die absolute Wahrheit oder eher eine Untertreibung, denn Alisa schien heute noch bezaubernder als damals. Doch irgendwie fühlte ich mich seltsam wehrlos, weil ich es gesagt hatte. Angreifbar, verletzlich. Ein einziger Satz, und nun gab es kein Versteck mehr, in das ich mich hätte flüchten können.
«Danke.» Mehr sagte sie nicht, und ich suchte in ihren Augen nach einem Zeichen, um ihre Gedanken erraten zu können, musterte ihre Gesichtszüge, um ihre Reaktion einschätzen zu können. Doch Alisa liess lieber ihre Hände sprechen. Sanft legten sie sich an meinen Hinterkopf und zogen ihn zu ihr hin. Als unsere Lippen sich berührten, schien alles, was in meinem Kopf war, durch eine geheime Tür zu entschwinden. Zurück blieb Leere. Eine unbeschreiblich schöne Leere.
Ihre Bewegungen waren so sicher, als wären sie einstudiert und minutiös geplant. Mit einer Hand öffnete sie die Knöpfe meines Hemdes, während sich die Finger ihrer anderen Hand in mein Haar gruben. Ich versuchte, sie mit vergleichbarer Eleganz von ihrer eng anliegenden Bluse zu befreien, wirkte dabei wohl aber eher ungelenk. Doch in jenem Moment war es mir egal, und auch sie schien mein fehlendes Geschick nicht zu stören. Sie liess die Bluse zu Boden gleiten und ihre Hände gleichzeitig über meinen Oberkörper wandern. Meine Fingerkuppen erkundeten derweil ihre Wangenknochen, ihren Hals, schwebten dem Träger ihres BHs entlang, bevor ich diesen über ihre Schultern streifte. Ich streichelte ihre Brüste, die festen Brustwarzen kitzelten in meinen Handflächen, und ich bemerkte kaum, wie Alisa sowohl meine als auch ihre Jeans aufknöpfte. Ich zog ihre Hose aus, kniete mich vor sie hin, und während ich mich auch meiner Jeans entledigte, küsste ich ihre Füsse, ihre Schienbeine, ihre Knie, ihre Oberschenkel. Die Narben auf der Haut liessen mich innehalten, und ich wandte meinen Blick hin zu ihren Augen. Ich glaubte, Tränen darin zu erkennen, doch Alisa schüttelte nur den Kopf, biss auf ihre Unterlippe und bat mich flüsternd, einfach weiterzumachen.
Meine Finger glitten über ihre Haut, brachten Schweissperlen zum Platzen und krallten sich hin und wieder sanft in die Rundungen ihres Körpers. Sie sass rittlings auf mir, ich lag in ihrem Bett und fragte mich, wie es so weit hatte kommen können. Oder vielleicht hätte ich mich dies gefragt, wenn ich hätte nachdenken können, was jedoch nicht der Fall war. Zu sehr war ich im Moment gefangen. Ein Moment, den ich mir zuvor zwar in schönsten Farben ausgemalt hatte (und das Ausmalen von Momenten in schönsten Farben beherrsche ich mit einer Meisterhaftigkeit, die nur noch von meinem Talent übertroffen wird, eben solche Momente entweder vollkommen zu ruinieren oder erst gar nicht entstehen zu lassen), dessen tatsächliche Schattierungen und Nuancen mich jedoch die Existenz eines mir bisher unbekannten Farbenspektrums vermuten liessen, das sich nun hier, in diesem spärlich beleuchteten Raum, in einnehmender Pracht vor mir entfaltete.
Ich spürte, wie ihre Hüften sich allmählich heftiger zu bewegen begannen, und liess meinen Blick über ihre Haut wandern. Meine Hände folgten ihm, zeichneten die Konturen ihres Bauches, ihrer Brüste, ihrer Arme nach. Und manchmal stolperten meine Finger über die dunklen Linien, die sich leicht von ihrer Haut abhoben. Als Alisa mein kurzes Zögern bemerkte, neigte sie ihren Oberkörper vor, bis ihre Brustwarzen meine Lippen berührten. Ich umkreiste sie mit meiner Zunge und atmete ihren süsslichen Duft ein. Mit geschlossenen Augen registrierte ich, wie sie sich über mir wieder aufrichtete und ihren Schoss noch stärker an meinen drängte, ihn schneller vor und zurück schob, und ihr lauter werdender Atem liess mich lächeln.
Als ich das Messer in ihrer Hand bemerkte, hatte seine Klinge bereits einen blutenden Strich auf ihrem Oberarm hinterlassen. Alisa liess den Stahl zwei weitere Male in die Haut eindringen, bewegte das Messer dann zu ihrem Bauch und schnitt tief in ihr Fleisch. Ich wollte schreien, wollte weinen, wollte mich übergeben, wollte sie von mir wegdrücken, wollte ihre Hand ergreifen und zurückhalten, doch ich konnte mich nicht bewegen. Mein Atem stockte, und ich spürte nur, wie sich meine Lust in stummem Getöse entlud, während Alisa eine tiefe Wunde in ihren Oberschenkel kerbte. Schliesslich drückte sie das Messer heftig in die Kuhle zwischen ihren Brüsten, warf ihren Kopf in den Nacken. Ihr Körper zuckte wie elektrisiert, ihrer Kehle entwich ein groteskes Gurgeln. Dann schrie sie.
***
Ihren Schrei hörte ich noch, als sie längst aufgestanden war und sich geduscht hatte. Er verstummte erst, als sie sich zu mir ans Fenster stellte, an welchem ich nackt und weinend eine Zigarette nach der anderen rauchte. Schweigend drückte sie ihren Körper an meinen und schlang ihre Arme um meinen Hals. Während ich ihre Haut auf meiner spürte, versuchte ich, meine Gedanken und Gefühle zu sortieren, um das Richtige zu sagen, doch statt Buchstaben tauchten nur immer weitere Fragezeichen vor meinem inneren Auge auf.
«Was denkst du?» wollte Alisa wissen, und der Klang ihrer Stimme liess getrunkene Tränen erahnen.
«Ich weiss nicht. Ich weiss es wirklich nicht.»
«Nützt es etwas, wenn ich sage, dass es mir leid tut?»
«Tut es dir denn leid?» fragte ich und löste mich aus ihrer Umarmung.
«Ich wünschte, es wäre so», antwortete sie nach kurzem Zögern. «Doch nein, wahrscheinlich tut es mir nicht leid. Ich wünschte mir nur, ich hätte dich damit nicht verletzt.»
«Du hast vor allem dich selbst verletzt. Warum hast du es getan?»
«Weil ich musste. Weil ich wollte. Weil ich nicht anders konnte. Verstehst du?»
Ich verstand nicht, doch ich wusste, dass sie sich dessen bewusst war. Also sagte ich nichts und blies ein wenig theatralisch den Rauch meiner Zigarette in das Schwarz der Nacht vor dem Fenster.
«Ging es hier nur um das?» Zugegeben, meine Frage war etwas kryptisch, doch ich war mir sicher, dass sie wusste, worauf ich hinauswollte. Ihre Antwort war nicht aus Worten gebaut, sondern aus einer neuerlichen Umarmung. Ihre Finger gruben sich in die Haut meines Rückens, bis es schmerzte. Womöglich glaubte sie, mit dieser körperlichen Erwiderung jede Erklärung überflüssig zu machen. Oder sie konnte oder wollte die richtigen Sätze nicht finden. Wir standen am Fenster, schweigend, weinend, in einer Umarmung, die so heftig und innig und tief war und sich dennoch nicht fassen und ergründen liess. Wir waren uns nah, waren uns fern, waren verloren in der Ruhe nach dem Sturm.
***
Der Hund bellt nicht mehr, es ist still. Ich stehe rauchend neben einem kleinen Sandkasten auf einem verwahrlosten Kinderspielplatz. Vor mir ragt ein graues und reizloses Haus in den Nachthimmel, und hinter einem der Fenster liegt Alisa in ihrem Bett, leise atmend und schlafend, vielleicht noch immer in jener seltsam gekrümmten Stellung, die Decke bis zu den Hüften zurückgeschlagen.
Ich weiss nicht, wie lange ich ihren nackten Körper betrachtete, bevor ich aus dem Schlafzimmer und der Wohnung schlich. Nicht nur er, der Körper, war wunderschön, sondern auch sie, die Frau, ist es. Ich schliesse meine Augen und sehe ihr Lächeln, ihr Lachen, das sich nicht nur auf den Lippen zeigt, sondern auch in ihren Augen, im gesamten Gesicht. Ich sehe ihre Tränen, wie sie der Wölbung ihrer Wangenknochen folgen. Ich sehe das Zucken ihres nackten Körpers, sehe die krausen Haare in ihrem Schoss, die anmutige Rundung ihrer Brüste. Ich sehe ihren Bauch und sehe, wie die Klinge des Messers in die Haut schneidet. Ich sehe die dunklen Flecken, ihr Blut auf dem weissen Laken. Benommen schlage ich die Augen wieder auf und blicke in eine getrübte Welt.
Erneut stimmt der Hund sein Klagelied an, noch verzweifelter und lauter als zuvor. Langsamen Schrittes gehe ich zurück zur Tür des Hauses, steige die Stufen hinauf zu Alisas Wohnung. Auf dem Tisch im Wohnzimmer brennt noch immer eine Kerze. Am Eingang zum Schlafzimmer bleibe ich stehen, blicke auf den schlafenden Körper. Ich könnte mich neben Alisa legen und beim Erwachen in ihre Augen blicken, ihre Wärme spüren, ihren Duft in mich aufnehmen. Oder ich könnte meine Sachen packen und verschwinden, hinaus in die Nacht, zurück nach Hause. Müde und ratlos setze ich mich auf den Boden, umklammere meine Knie mit den Armen. Hier, in diesem Raum, ist der Hund nicht zu hören. Nur das Echo eines Schreis und der Nachhall einer Stimme, deren Klang mich an einen warmen Sommerabend erinnert, an welchem sich die Sonne hinter Wolkenresten zur nächtlichen Ruhe bettet. Ich lausche.

hmmm.
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