Vor ihr liegt eine Eisfläche, ein Tisch in seiner kalten Leere. Hinter ihr liegt die Dunkelheit, die Nacht in ihrer kalten Leere. Neben ihr liegt das Nichts, ihr Leben in seiner kalten Leere.
Jenseits der Gegenwart gab es eine Zeit, die nicht leer war. Eine Zeit, in der ihr Herz keinen dicken Mantel tragen musste. Eine Zeit, in welcher der Stuhl auf der anderen Seite des Tisches nicht unbesetzt blieb. Damals sass dort Hope. Sie hatten sich genau hier kennen gelernt, in diesem Automatenrestaurant, an diesem Tisch. Und auch an jenem Tag trank Eve in frei gewähltem Alleinsein einen Kaffee, wusste aber nicht, dass sie etwas vermisste. Es war Sommer in New York, und in der Luft lag eine Leichtigkeit, die nach reifen Zitronen und jungen Blumen roch. Eve verbrachte ihre Tage damit, zwischen ihrer Arbeit in einer Anwaltskanzlei und ihrer kleine Wohnung, die sie gerade erst bezogen hatte, zu wechseln. Rudimentäre Bekanntschaften begleiteten ihr Dasein, doch sie wusste die Linien klar zu ziehen, an denen sie anderen Menschen das Näherkommen verwehrte. Sie stellte sich nie die Frage, ob sie glücklich sei oder nicht. Vielleicht hatte sie Angst vor der Antwort. Vielleicht war sie auch einfach nicht an Glück interessiert. Doch dann traf sie Hope.
Zuerst wollte sie ablehnen, als die fremde Frau an ihren Tisch trat und mit der Hand auf den leeren Stuhl deutete. Eve hatte überhaupt kein Bedürfnis nach sinnloser Kommunikation, und etwas anderes wäre nicht zu erwarten gewesen. Dennoch nickte sie, wenn auch ein gewollt mürrisches Gesicht ihren Kopf zierte, und die Frau setzte sich. Sie war äusserst hübsch, ein wenig schlanker und grösser als Eve. Ihre Lippen waren kleine Kissen, ungeschminkt und weich. Einen kurzen Moment lang dachte Eve an das Küssen, und der Gedanke erschreckte sie und liess sie leicht zusammenfahren. Noch nie hatte sie daran gedacht, eine Frau zu küssen, schon bei Männern war dies nur eine vage Möglichkeit, der sie eher mit Abscheu denn mit Zuneigung begegnete. In ihrem Leben hatte sie bisher zwei Männer geküsst. Beide waren es nicht wert gewesen. Die Lippen einer Frau waren ohne jede Bedeutung für sie. Als die fremde Frau jedoch Eves Nicken mit einem Lächeln quittierte, änderte sich das. Und noch mehr.
Die fremde Frau trug einen schwarzen Rock und eine leicht zerknitterte weisse Bluse, an welcher ein Schild angebracht war: Hope. Wer nennt seine Tochter Hoffnung, fragte sich Eve und konnte sich ein schüchternes Grinsen nicht verkneifen. Es blieb nicht unbemerkt, auch Hope formte ihre Kissenlippen erneut zu einem Lächeln. Als sich die Blicke der beiden Frauen trafen, trafen sich vor dem Automatenrestaurant auch zwei Autos mit Automatikgetriebe, frontal und äusserst laut, doch Eve konnte die Kollision nicht hören. Sie hörte nur noch das Rauschen ihres Blutes, es klang wie das Meer an jenem Strand, an dem sie als Siebenjährige Muscheln gesucht hatte. Und nun schwamm Eve im Meer von Hopes Augen.
Sie sprachen kein Wort, bewegten keinen Muskel. Eve war gefangen in der Umarmung dieses Blickes, ihr war heiss und kalt und nichts von beidem, sie fühlte sich wohl im Unwohlsein der Situation. Die Zeit lief vorbei wie ein Passant, den sie nicht sah. Sie wusste nicht, wie lange sie in der Liebkosung der Augen geborgen lag, doch sie glaubte, irgendwo weit weg Tage und Nächte an sich vorüberziehen zu spüren, Herbst, Winter, Frühling, Sommer. In ihrem Kopf fanden sich derweil die ansonsten rasenden Gedanken zu einer ruhigen Kugel zusammen. Die ganze Welt war konzentriert auf dieses Gesicht, auf die blauen Augen, den Kissenmund, den sie so gerne geküsst hätte. Doch sie wagte nicht, sich zu bewegen.
Schliesslich, nach gefühlten Jahrhunderten, begann sie innerlich zu zittern. Unter ihrer Haut brannten Feuer, und sie glaubte, verglühen zu müssen, wenn sie diese Lippen nicht küsste, diese Haut nicht streichelte. Sie bewegte ihre Hand langsam an Hopes Wangen, als plötzlich jemand ihrer Schultern berührte. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragte eine fremde Männerstimme, und als sie ihren Kopf umwandte, blickte sie ins Gesicht von Tom, dem Besitzer des Automatenrestaurants. „Es tut mir leid, aber ich befürchte, sie müssen das Lokal verlassen, wenn sie nichts trinken oder essen.“ Eve war verwirrt und wandte sich Hilfe suchend zu Hope um, aber der Stuhl war wieder leer, Hope nicht zu sehen. Sie fragte Tom, ob er vielleicht mitbekommen habe, wohin ihre Freundin gegangen sei. „Ihre Freundin?“ Tom schien durcheinander. „Sie sitzen hier schon seit Stunden allein.“ Eve starrte ihn an, liess noch ein ungläubiges „Was?“ entweichen. Als sie die Feuchtigkeit in ihren Augen zu spüren begann, stand sie eilig auf und drängte zum Ausgang. Als sie das Automatenrestaurant verlassen hatte, blickte sie noch einmal zurück durch die Glastüre, hin zu jenem Tisch, den sie Jahrhunderte lang mit Hope geteilt hatte.
Das war vor fünf Jahren. Seither kommt Eve jeden Tag nach der Arbeit ins Automatenrestaurant, auch an den Wochenenden. Doch Hope hat sie nie mehr getroffen. Und sie hat die Hoffnung aufgegeben, sie wieder zu sehen. Alles, was ihr bleibt, ist der Moment, der ewig zu dauern schien und so plötzlich vorbei war. Alles, was ihr bleibt, ist eine Eisfläche, ein Tisch in seiner kalten Leere. Die Dunkelheit, die Nacht in ihrer kalten Leere. Das Nichts, ihr Leben in seiner kalten Leere.
((HOPE – GEDANKEN ZUM BILD «AUTOMAT» VON EDWARD HOPPER))