Es ist viertel nach drei Uhr nachmittags. Ich stehe in der Dunkelheit des fensterlosen Korridors und blicke durch die leicht geöffnete Tür zum Schlafzimmer. Auf dem Bett liegt Christina, meine Frau. Sie ist nackt, ihre Augen sind geschlossen. Sonnenstrahlen klammern sich an kleine Schweisstropfen auf ihrer Haut. Sie atmet schwer, stöhnt leise. Wenn ich einen Schritt zur Seite trete, sehe ich die andere Frau nicht, deren Kopf sich sanft zwischen Christinas Beinen bewegt, auch nicht die Hände, die sich unter ihre Hüften geschoben haben. Ich könnte mir einbilden, dass meine Frau schläft und träumt, vielleicht sogar von mir. Doch meine Frau schläft nicht, träumt nicht, schon gar nicht von mir.
Ich möchte wegsehen, weggehen, vielleicht. Doch ich kann nicht. Meine Augen heften sich an alles, was sie erblicken. Die Digitaluhr des Weckers zeigt 15:15. Die Bettdecke liegt auf dem Boden, daneben ein Slip. Ich weiss nicht, ob er Christina oder der anderen Frau gehört, die ebenfalls nackt ist. Auf dem Nachttisch steht eine Statue, die ich meiner Frau zum ersten Hochzeitstag geschenkt habe. Sie wirkt kleiner als damals. Christinas linke Hand gräbt sich in die Matratze, die rechte in den Haarschopf in ihrem Schoss. Ein Hüftknochen hebt sich ab, und auf der Haut, die sich über ihn spannt, zeigt sich ein grosses Muttermal. Ich bin nicht sicher, ob mir dieses Muttermal bisher aufgefallen ist.
Die andere Frau ist keine Fremde, auch wenn ich ihren Namen nicht kenne. Sie wohnt im gleichen Wohnblock wie wir, in einer der 67 Wohnungen. Ich bin ihr einige Male begegnet, habe sie jeweils angelächelt, doch ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals zurückgelächelt hätte. Ihr Gesicht glich stets einer Maske, einer schönen, aber traurigen Fassade, hinter der sich etwas verbarg, geheimnisvoll und anziehend. Ich beisse auf meine Unterlippe, während ich mich entsinne, dass ich einmal, als ich mit Christina schlief, an diese Frau gedacht habe.
In meinen Ohren höre ich das Blut pochen, und ich vergleiche den Takt mit den rhythmischen Bewegungen der beiden Frauen, die im nachmittäglichen Sonnenlicht im Bett liegen. In unserem Bett, in meinem Bett. Ich überlege kurz, ob ich eintreten soll, male mir aus, wie es wäre, mit Christina und der anderen Frau Sex zu haben. Ich spüre das heftige Pulsieren meiner Erektion und drücke mit einer Hand gegen meine Hose, als ob es mir peinlich wäre. Dann wende ich mich ab und verlasse die Wohnung, so leise, wie ich sie betreten habe.
Die Fahrt mit dem Aufzug nach unten dauert eine Ewigkeit. Es sind normalerweise neun Stockwerke, doch heute scheinen sich zusätzliche Etagen in den Weg zu drängen. Ich vernachlässige das Atmen, und als ich aus dem Gebäude in die hell erleuchtete Welt dieses Nachmittages trete, ringe ich nach Luft. Eine Katze liegt auf der Treppe, leckt sich ihr Fell, beachtet mich nicht. Ich schleiche an ihr vorbei, um sie nicht zu stören. Vor meinen Augen flimmern die Ziffern der Digitaluhr im Schlafzimmer, dieses 15:15, wie ein Zeichen, eingebrannt in meine Netzhaut. Ich sehe eingefrorene Bilder. Eine Hand, in langen dunklen Haaren vergraben. Der Slip auf dem Boden. Der dunkle Flaum in Christinas Schoss. Und das Muttermal. Ich stelle mir vor, was die andere Frau mit ihrer Zunge anstellt.
Langsam gehe ich die Strasse entlang. Autos fahren vorbei, seltsam geräuschlos. Ich blicke zurück zum hässlichen Wohnblock, der sich grau in den blauen Himmel schraubt. Die Fenster unserer Wohnung sind von hier unten nicht zu sehen, und ich überlege, auf welcher Etage die andere Frau wohnen könnte. In einem vorhanglosen Fenster ist eine Zimmerpflanze zu erkennen, und ich erinnere mich an die Blumen, die ich Christina mitgebracht und in der Küche abgelegt habe, nachdem ich das leise Stöhnen aus dem Schlafzimmer vernommen hatte. Eine Mischung aus Angst und schlechtem Gewissen steigt in mir auf, und ich versuche vergeblich, mir diese Gefühle zu erklären. Es gibt keinen Grund dafür, ich habe nichts Falsches getan, nichts Unrechtes oder Verletzendes. Trotzdem ziehe ich hastig mein Handy aus der Tasche und schreibe Christina eine Kurzmitteilung, dass ich mir den Nachmittag frei genommen habe und gleich zu Hause sei.
Ich eile zurück zum Wohnblock, steige in den Aufzug, fahre nach oben. Die zusätzlichen Etagen sind wieder verschwunden. Vor der Wohnungstüre bleibe ich stehen, halte den Atem an und lausche. Leise Stimmen sind zu hören, vielleicht ein Kichern. Ich räuspere mich und trete ein.
«Das ist Natalie», sagt Christina. «Sie wohnt in der dritten Etage.»
Natalie lächelt mich an und sagt Hallo, streckt mir ihre Hand entgegen.
«Hallo», gebe ich zurück und versuche, ebenfalls zu lächeln, ohne es gequält wirken zu lassen. Wir stehen zu dritt im Wohnzimmer.
«Wir haben Kaffee getrunken», erklärt Christina, und ich verzichte darauf, sie zu fragen, wohin denn die Kaffeetassen verschwunden seien. Stattdessen wende ich mich wieder Natalie zu.
«Du bist eine schöne Frau», sage ich nach einem inszenierten Hüsteln. Mein Blick streift kurz Christina, in deren Augen ein Ausdruck zu erkennen ist, von dem ich nicht weiss, ob er fragend, erschrocken oder wütend sein soll.
«Wirklich schön», wiederhole ich. «Vor allem, wenn du lächelst. Solltest du häufiger tun.»
Natalie blickt mich verständnislos an, das Lächeln gefriert auf den Lippen. Ich spiele mit dem Gedanken, sie zu fragen, ob sie mit mir schlafen will. Nicht etwa, weil ich mich danach verzehre, sondern weil ich glaube, in der momentanen Situation alles sagen zu können, ohne mich schlecht fühlen zu müssen. Doch ich frage nicht.
Christinas Stimme bricht in die entstandene Stille ein. «Weshalb hast du denn frei genommen?»
«Ich wollte dich überraschen», antworte ich und lächle sie an. «Ich hab dir sogar Blumen mitgebracht. Sie liegen in der Küche.» Christina und Natalie sehen sich an, wissen beide so gut wie ich, dass ich noch nicht in der Küche war, seitdem ich zu Hause bin. Ich drehe mich um und verlasse das Wohnzimmer, tauche in die Dunkelheit des Korridors. Hinter mir ertönt ein kurzes Flüstern. Ich stosse die Tür zum Schlafzimmer auf. Die Strahlen der Nachmittagssonne fallen auf das gemachte Bett, einige werden von schwebendem Staub eingefangen. Die Digitaluhr des Weckers zeigt 15:48. Ich reisse die Decke weg, lege mich auf die Matratze, mit dem Gesicht nach unten, schliesse die Augen, atme tief ein. Behutsam berührt meine Zunge den Stoff. Eine Hand, in langen dunklen Haaren vergraben. Der dunkle Flaum in Christinas Schoss. Ihr Hüftknochen. Und das Muttermal.

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