Da war dieses kleine Mädchen, und es hatte kleine Beine und kleine Füsse, natürlich auch kleine Arme und kleine Hände, einen kleinen Kopf mit kleinen Ohren und einem Mund, der, man ahnt es, klein war. Fast alles am kleinen Mädchen war klein, nicht etwa winzig, aber doch klein, und dass dieser Satz mit dem Wort Fast anfängt, hat natürlich einen Grund, sonst könnte man das Fast ja auch im Wandschrank lassen. Den Grund muss man nicht lange suchen, denn er ist immer zuerst da und nicht zu übersehen, höchstens von hinten, und wer ein kleines Mädchen von hinten anschaut, darf sowieso nicht weiterlesen. Du aber erfährst nun den Grund, der nicht lange gesucht werden muss.
Man kann es drehen und wenden, wie man will (sollte es aber nicht zu stark tun, sonst wird dem kleinen Mädchen schlecht), es liegt einfach auf der Hand und lässt sich nicht von selbiger weisen: Das kleine Mädchen hatte eine grosse Nase. Nicht bloss gross, sondern riesig, kolossal, gigantisch, ja titanisch, und während einige Germanisten an der Universität Leipzig sogar nach neuen Worten suchten, um diese Nase zu beschreiben, stand ihre Besitzerin vor dem Wandschrank und überlegte, ob sie sich darin einschliessen soll. Denn zwar schämte sich die Nase nicht für ihre Grösse, aber das kleine Mädchen schämte sich für die Nase.
Angefangen hat alles am Anfang, wie so vieles. Als das kleine Mädchen geboren wurde, war die Nase schon auf der Welt, denn sie hatte sich vorgedrängelt. Schon damals hatte sie eine Grösse, die so gar nicht in das zierliche Gesicht, in dem sie wohnte, passen wollte. Und zwischen damals und heute war die Nase in punkto Wachstum deutlich schneller unterwegs als das kleine Mädchen selbst, weshalb es immer häufiger mit der Gesellschaft in Konflikt geriet. Eine Gesellschaft ist vergleichbar mit einer jener bunten Fisher-Price-Würfel mit Löchern in verschiedenen Formen, in welche die entsprechenden Plastikteilchen gesteckt werden müssen – was nicht passt, kommt nicht rein. Das kleine Mädchen passte auch nicht rein, denn für die Gesellschaft war die Nase einfach zu gross.
Die Isolation ging zu Beginn von der Gesellschaft aus, doch mit der Zeit – denn ohne Zeit kommt man nicht vorwärts – liess das kleine Mädchen den Abstand ihrerseits grösser werden, indem es dem Kontakt zu anderen Menschen nach Möglichkeit aus dem Weg ging, und Möglichkeiten gab es genug und immer mehr. Irgendwann, es war an einem Sonntag im Mai, war das kleine Mädchen dann endlich allein auf der Welt. Die dummdreist metaphorischen Brücken hatte es nicht nur abgebrochen, sondern gleich niedergebrannt, hatte sich Abschlusslinien geschaffen und jeden Grenzübertritt mit lautem Gezeter und wie Edelsteine funkelnden Augen quittiert, bis sich ihm niemand mehr näherte und es nur noch die Blicke im Nacken spürte. Und an jenem Sonntag im Mai hörte auch das auf.
Natürlich war das kleine Mädchen mit der grossen Nase nicht glücklich über seine Situation, und jede Nacht suchten sich Tränenflüsse ihren Weg über die mächtigen Flügel. Doch es hatte sich irgendwie daran gewöhnt, dass in seinem Leben niemand eine Rolle spielte und es selbst in keinem anderen Film als seinem eigenen zu sehen war. Man richtet sich so ein in den Gegebenheiten wie das alte Grossmütterchen im Lehnstuhl, und das kleine Mädchen, mittlerweile zu einer kleinen Frau gereift, hatte es sich in der Alleinsamkeit eingerichtet.
Die kleine Frau beschränkte ihre Ausbrüche aus der Innenwelt und Einbrüche in die Aussenwelt auf Spaziergänge und Einkäufe, wobei vor allem letztere sie nicht um soziale Kontakte herumkommen liessen. Und bei einem Zwangsauflug in den nächsten Grossverteiler fiel das sorgsam aufgebaute Konstrukt unversehens in sich zusammen, oder zumindest begann es zu bröckeln. Die kleine Frau stand vor dem Marmeladenregal und haderte mit der Entscheidung zwischen Erdbeere und Aprikose, als ihre Nase bei einer leichten Kopfbewegung ein Glas Himbeermarmelade touchierte, das sich davon nicht erholte und lebensmüde vom Regal sprang. Schreiend fiel es in die Tiefe, zerschellte auf dem Boden und machte dabei ein dumpf klirrendes Geräusch, das die Aufmerksamkeit der meisten Grossverteilerkunden auf sich und damit auch auf die kleine Frau zog. Die fand das natürlich exorbitant unangenehm, eigentlich scheisse, und dieses Wort sagte sie dann auch laut. Doch manchmal findet man eine Perle in der Scheisse, und tatsächlich hörte sie eine Stimme hinter sich leise sagen: «Manchmal findet man eine Perle in der Scheisse.» Sie drehte ihren Kopf und erschlug mit ihrer Nase beinahe einen reichlich attraktiven Mann mit blondbraunen Haaren, grünen Augen, lächelnden Lippen und mit Ohren. Keine normalen Ohren, keine kleinen feinen Muschelohren, sondern riesige Tellerohren, die leicht im Wind, der gar nicht wehte, hin und her wogten.
Noch nie in ihrem gesamten Leben hatte die kleine Frau einen Menschen schön gefunden, bis zu jenem Zwischenfall vor dem Marmeladenregal. Ihr Herz weitete sich zu einem pulsierenden Stern und rutschte in ihre Hose, wo zum ersten Mal eine Empfindung geboren wurde, ein Ziehen und Zucken, neu wie ein Regentropfen auf der Haut. Sie versuchte, das Lächeln des Mannes zu erwidern, was ihr ein wenig weh tat, ausserdem konnte sie nicht beurteilen, ob es ihr gelang. Zumindest verharrten seine Mundwinkel auf einer Höhe, die sein Gesicht nicht nur freundlich, sondern anziehend wirken liessen. Die kleine Frau mit der grossen Nase hätte gerne etwas gesagt, doch schien sie alle Worte verloren zu haben. Sie kramte in der Handtasche nach ihnen, doch sie fand nichts, nur eine kleine Plastikrose, die sie vor Unzeiten während eines Spazierganges gefunden hatte. Sie drehte sie zwischen ihren kleinen Fingern und streckte diese dem Ohrenmann hin, was in dessen Augen ein Feuer entfachte. Die kleinen Füsse der kleinen Frau schnappten sich ihr Funkgerät und liessen oben im Kopf ausrichten, dass sie sich nun schleunigst in Bewegung setzen wollten. Doch der Mann mit den Tellerohren hatte andere Pläne, zumindest einen, denn er hielt die kleine Frau unvermittelt fest. «Nicht weggehen», bat er, «bitte nicht weggehen.» Ihre kleinen Füsse waren verwirrt, wie auch alle ihre anderen Extremitäten, die in Aufruhr gerieten und den gesamten Funkverkehr zusammenbrechen liessen. In Anbetracht dieser Situation beschloss der Boden unter ihren Füssen, auf dem sich langsam Himbeermarmelade breit machte, dass der Moment günstig wäre, um verloren zu gehen. Er tat es und schaltete gleich noch das Licht aus.
Als die kleine Frau ihre Augen wieder aufschlug, war sie in der Gegenwart angekommen. Sie liegt auf einer Couch, die sie nicht kennt, in einem Raum, den sie noch nie gesehen hat, der aber doch nicht fremd scheint. Auf einem kleinen Tisch brennt eine Kerze, es duftet nach Vanille. Daneben stehen drei Gläser Marmelade, sie heissen Erdbeere, Himbeere und Aprikose. Aus einem anderen Raum suchen sich klappernde Geräusche den Weg an ihre kleinen Ohren. Sie setzt sich auf und hustet leise. Das Klappern verstummt, und kurze Zeit später tauchen zwei grosse Teller in der Tür auf, zwischen denen sich ein bekanntes Gesicht versteckt. «Du bist wach», sagt eine warme Stimme. Der Ohrenmann setzt sich neben sie auf die Couch und fragt, ob sie einen Tee wolle. Die kleine Frau nickt, und er steht auf. Bevor er zurück in die Küche geht, will er wissen, wie sie sich fühlt. «Ich fühle mich…», beginnt sie und verharrt unvermittelt. Nicht weil sie den Text vergessen hat, sondern weil sie erkennt, dass sie bereits Recht hat. Sie fühlt.

Da ist viel Wortwitz darin. Es ist aber noch nicht disputnik, doch es gefällt und amüsiert.
Freundlichst
Ihr Herr Hund, Altertumsforscher
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Das freut mich sehr, dass Sie sich archäologisch betätigen, Herr Hund. Und Sie haben natürlich Recht, dass sich die Relikte von gegenwärtigen Exponaten unterscheiden. Zum Glück. Dennoch und überhaupt herzlichen Dank für Ihr Ausgraben.
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