Es war ein regnerischer Donnerstag, als ich meinen Verstand verlor. Ich weiss dies deshalb so genau, weil heute Freitag ist und sich besagtes Ereignis gestern zugetragen hat. Der Verlust des Verstandes ist ziemlich schwerwiegend, denke ich. Überhaupt ist es meistens unangenehm, etwas zu verlieren. Bei einer Klassenfahrt verlor ich, damals wohl etwa neun Jahre alt, eine Armbanduhr. Sie rutschte mir vom Handgelenk, als ich gerade auf einer Brücke stand, die über einen Fluss führte. Es war eine wirklich tolle Uhr, ich hatte sie erst kürzlich von meinem Onkel geschenkt bekommen, der sie aus Russland mitgebracht hatte. Ich fühlte mich damit richtig russisch. Als sie ins Wasser fiel, spürte ich, wie mir ein Teil meiner Identität entrissen wurde und den Fluten zum Opfer fiel. Vielleicht weinte ich sogar, ich weiss es nicht mehr. Es war furchtbar. Und wenn es schon furchtbar ist, wenn man eine russische Armbanduhr verliert, wie verheerend dürfte es wohl sein, wenn der Verstand abhanden kommt? Ich müsste es eigentlich wissen, doch wahrscheinlich bedarf es des Verstandes, um zu erkennen, was dessen Verlust bedeutet.
Der Verstand ist zweifellos auch notwendig, um Gedanken zu fassen und diese in Worte zu kleiden. Deshalb mögen logisch denkende Menschen nun anmerken, dass ich diese Sätze eigentlich gar nicht schreiben könnte, ohne zu lügen. Doch ich lüge nicht. Auch das Lügen setzt Verstand voraus. Gleiches gilt für Logik. Ich kann also nicht logisch denken, wie dies logisch denkende Menschen tun. Eigentlich kann ich gar nicht denken, ganz sicher nicht logisch. Aber ich kann schreiben. Dafür braucht es nur Finger, und die hat der Verstand nicht mitgenommen, als er mich verliess.
Natürlich ist alles gelogen. Aber Wahrheit wird überschätzt.
