Sie rennt und rennt, rennt und rennt, und während sie rennt, hört sie es dumpf in ihren Ohren pochen, hört den Rhythmus ihres Herzschlags, er klingt wie ein elektronischer Beat, und sie denkt an den Film Lola rennt und an die treibende Musik darin und daran, dass Lola rennt, weil sie Geld besorgen will, das ihr Freund verloren hat, und daran, dass im Film dreimal die gleiche Zeitspanne in unterschiedlicher Ausprägung erzählt wird, und sie rennt wie Lola, aber sie heißt nicht Lola, sondern Lena, und sie muss auch kein Geld für ihren Freund besorgen, denn sie hat keinen Freund, aber sie rennt dennoch, umso mehr, weil sie die Zeit nicht in Varianten erzählen kann, es gibt immer nur eine Version der Zeit, und in dieser Version rennt Lena, rennt und rennt, rennt und rennt, Lena rennt über Wurzeln, die aus der Erde ragen, und zwischen den Bäumen hindurch, rennt über Wiesen und Felder, rennt an Büschen und Sträuchern vorüber, so nahe, dass ihr die dornigen Zweige die nackte Haut aufreißen, aber Lena ignoriert den Schmerz, lässt ihn nicht zu, wenn sie sich nur auf das Rennen konzentriert, bleibt der Schmerz ausgeklammert, bleibt nur Theorie, und sie rennt weiter und hört das Pochen und sieht die Landschaft, sieht sie verschwommen, in Schlieren, die ganze Welt ist erfüllt von Bewegungsunschärfe, nur die Wolken am Himmel bleiben einigermaßen klar und deutlich, heben sich vom Hintergrund ab, und Lena mag es, wenn Wolken wie Watte am Himmel hängen, sie mag diesen Wattehimmel viel lieber als den vollkommen blauen Himmel eines heißen Sommertages oder den vollkommen grauweißen Himmel eines trüben Herbsttages oder den vollkommen schwarzen Himmel einer Nacht ohne Sterne, und vielleicht ist es die Vollkommenheit, die ihr widerstrebt, womöglich ist ihr das Absolute suspekt, ist ihr zu eindeutig, ja, das wird es wohl sein, denkt Lena und würde gerne lächeln, weil ihr die Sache mit dem Absoluten und Eindeutigen gerade bewusst wird, aber sie kann nicht gut lächeln, wenn sie rennt, und sie rennt nach wie vor, rennt und rennt, rennt und rennt, und während sie rennt, verendet ein Delfin in einem Fangnetz; während sie rennt, haben zwei Menschen Sex miteinander und nur einer genießt ihn; während sie rennt, zündet sich jemand die letzte Zigarette an; während sie rennt, sitzt ein Mann an einem Bildschirm und steuert eine Drohne, die schließlich ein Kind tötet, weit weg von diesem Mann am Bildschirm; während sie rennt, lässt eine Kuh ihren Kot plätschernd auf eine Wiese fallen; während sie rennt, lässt sich jemand ein Hakenkreuz auf die Brust tätowieren; während sie rennt, hört jemand zum ersten Mal den Song Lilac Wine von Jeff Buckley; während sie rennt, brät jemand ein Stück mageres Fleisch in einer beschichteten Pfanne, mit wenig Öl und ein bisschen Pfeffer; während sie rennt, stirbt irgendwo eine Mutter; während sie rennt, steht jemand auf einer Brücke und blickt nach unten; während sie rennt, fährt ein Mann betrunken Auto; während sie rennt, wedelt ein Golden Retriever mit seinem Schwanz; während sie rennt, pflückt ein Mädchen ein paar Blumen von einer Wiese; während sie rennt, lässt eine ältere Dame im Supermarkt eine Flasche Wein fallen; während sie rennt, fällt ein Sack Reis um, aber nicht in China; während sie rennt, singt eine Lehrerin ein Lied mit ihren Schulkindern und spielt dabei Gitarre; während sie rennt, blickt eine Frau in den Spiegel in ihrem Badezimmer und bricht in Tränen aus; während sie rennt, fängt eine Katze einen Spatz; während sie rennt, kann ein alter Mann seinen Stuhl nicht kontrollieren; während sie rennt, flackert eine Leuchtstoffröhre im Korridor eines Krankenhauses; während sie rennt, frisst sich ein Wurm durch einen toten Menschenkörper; während sie rennt, erklärt ein Mann die Pointe eines Witzes; während sie rennt, schreibt jemand seinen Namen auf ein Blatt Papier, doch all das, was passiert, während sie rennt, ist Lena egal, zumindest im Moment, denn im Moment rennt sie, nichts anderes als das, sie rennt und rennt, sie rennt und rennt, und sie rennt so intensiv, dass sie beinahe vergisst, weshalb sie rennt, aber eben nur beinahe, sie weiß durchaus noch, weshalb sie rennt; sie rennt, weil sie schreien will, so laut schreien will, wie es ihre Stimme zulässt, und weil sie niemanden stören oder erschrecken will, rennt sie, rennt weit weg von allen Menschen und Lichtern und Geräuschen, rennt weg vom ganzen Getöse, rennt weg von den Pauken und Trompeten, rennt weg von den erniedrigenden Gesängen der Fußballfans, rennt weg von geschmacklosen Gemälden, die an Raufasertapeten hängen, rennt weg vom ungeschminkten Hass im Internet, rennt weg von der Selbstherrlichkeit alter weißer Männer, rennt weg von hupenden Autos, rennt weg von faulen Tomaten im Gemüseregal, rennt weg von hohlen Politikerphrasen, rennt weg von Befunden, in denen das Wort bösartig steht, rennt weg von verpassten Zügen, rennt weg von den Blaulichtern und Sirenen, rennt weg von den Gesichtsausdrücken von Männern in Pornofilmen, rennt weg von Littering im Wald, rennt weg von Aufzügen, die nicht funktionieren, rennt weg von der Lieblosigkeit in eingerosteten Beziehungen, rennt weg von der Banalität der Kriege im Fernsehen, doch vielleicht rennt sie nicht nur weg von allem anderen, sondern auch weg von ihr selbst, rennt weg von Lena, rennt weg von diesem Ich, das ihr bisweilen so fern und fremd ist; rennt weg davon, dass auch sie manchmal in den Spiegel in ihrem Badezimmer blickt und in Tränen ausbricht; rennt weg von den Lügen, mit denen sie andere zu schützen versuchte und vor allem sich selbst; rennt weg von den Briefen, die sie nicht schrieb, und von den Anrufen, die sie nicht führte; rennt weg vom Schweigen, in das sie sich zu flüchten pflegte; rennt weg von dem Moment, in dem sie wiederholt Nein sagte und er nicht zuhörte; rennt weg von der kleinen weißen Narbe an ihrem Arm; rennt weg von der Art und Weise, wie sie manchmal ihre Mutter anschaute, als diese noch lebte; rennt weg von ihrem Mundgeruch am Morgen; rennt weg vom merkwürdigen Gefühl, wenn sie ihr Brüste berührt; rennt weg vom Ekel, der sie befällt, wenn sie alten kalten Rauch riecht; rennt weg von den Sätzen, die sie als Mädchen in ihr Tagebuch kritzelte; rennt weg von dieser elenden Leere, die sich bisweilen in ihr ausbreitet und sich über alles legt wie ein schwarzes Tuch; rennt weg von ihrer eigenen Apathie; rennt weg von den Situationen, in denen sie mit sich selbst spricht; rennt weg von den starren Blicken aus dem Fenster; und während sie rennt, hört sie weiterhin den Rhythmus ihres Herzschlags, der sie an die Musik im Film Lola rennt erinnert, und Lena rennt noch ein wenig schneller, und als der Weg stärker ansteigt, spürt sie, wie das Rennen anstrengender wird, aber sie rennt unvermindert weiter, spürt die Härte ihrer Muskeln, spürt den unnachgiebigen Boden unter ihren Füssen, spürt jetzt auch den Schmerz, weil die dornigen Zweige ihre Haut aufgerissen haben, und weil sie den Schmerz spürt, vergisst sie einen kurzen Moment lang, weshalb sie rennt, aber eben nur einen kurzen Moment lang, und dann erinnert sie sich wieder, weshalb sie rennt; sie rennt, weil sie schreien will, so laut schreien will, wie es ihre Stimme zulässt, und Lena rennt weiter, rennt noch schneller, rennt und rennt, und dann und dann, dann kommt sie oben an, und dann und dann, dann reißt sie ihren Mund auf und holt tief Luft, sie atmet alles ein, atmet die ganze Welt in sich hinein, füllt ihre Lungen mit Raum und Zeit, und dann, als es nichts mehr einzuatmen gibt, will sie schreien, einfach schreien, so laut und lange wie möglich, aber dann, aber dann, dann versagt ihre Stimme, bleibt stumm, alles bleibt still, kein Geräusch ist zu hören, da ist nur das dumpfe Pochen in ihren Ohren, und Lena atmet wieder aus.

Wäre ich jünger und könnte noch rennen, ich würde Lena hinterher rennen, denn so schnell und so ausdauernd wie sie wäre ich nicht
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Wenn man die Augen schliesst und sich ein wenig von den Fesseln der Realität löst, kann man so schnell rennen, wie man will… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
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Das ist gut, man kriegt richtig Geschwindigkeit, und ich bin die Frau im Badezimmer!
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen! (Und nichts wie raus aus dem Badezimmer.)
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