Man hat ihn nicht eingeladen. Man hat ihn nicht zu sich gewinkt, hat ihm nicht die Tür geöffnet, hat ihm keinen roten oder andersfarbigen Teppich ausgerollt, überhaupt hat man ihm nichts dargebracht, sich ihm nicht einmal zugewendet. Man hat ihn in keiner Weise glauben lassen, er sei willkommen. Dennoch sitzt er nun da, ein weiteres Mal, sitzt am Tisch, mitten im Raum, mitten im Leben, im einzigen Leben, das man hat. Er sitzt da, ohne Gesicht, ohne Augen, ohne Blick, und trotzdem nimmt er alles ein. Zumindest fast alles.
Er trägt einen alten schwarzen Mantel, zerschlissen und ausgeleiert, doch dieser Mantel ist nur ein Klischee, ein adäquates Sinnbild. Er könnte auch eine rote Trainingsjacke von Adidas oder ein violett glänzendes, samtenes Hemd mit Rüschen am Revers tragen, und nichts wäre anders, nur der Stoff an seinem Leib. Seine äußere Erscheinung spielt kaum eine Rolle. Seine Physis ist von lähmender Beliebigkeit, sein Körper ist bloß ein Vehikel. Was zählt, ist die Tatsache, dass er da ist.
Man könnte ihn verleugnen, könnte seine Existenz negieren und behaupten, er sei lediglich ein Trugbild, eine kurzzeitige Irritation. Man könnte ihn missachten, könnte so tun, als wäre er gar nicht zugegen. Doch man würde scheitern. Man hat es versucht, durchaus häufig, immer wieder. Und jedes Mal hat er in der Folge nur noch hartnäckiger seine Anwesenheit verdeutlicht, ist grösser und breiter und schwerer geworden. Er lässt sich nicht wegdenken, nicht ignorieren. Seine Präsenz fordert Akzeptanz ein.
Manchmal macht er merkwürdige Geräusche, manchmal zittert er, manchmal stöhnt er, manchmal stinkt er, manchmal gräbt er seine alten Fingernägel in das Holz des Tisches, doch häufig sitzt er still und neutral auf dem Stuhl, und alles, was ihm entweicht, ist eine Art von Dunkelheit, die nicht auf der Abwesenheit von Licht beruht. Wenn er da ist, hängt die Decke tiefer, die Fenster werden klein und milchig, selbst das einfallende Sonnenlicht bleibt nicht an den Staubfetzen haften, die durch Raum schweben. Man reißt die Augen weit auf, damit es etwas heller wird, doch nach kurzer Zeit trocknet die Linse aus, man muss blinzeln und schiebt die Augen wieder zu Schlitzen zusammen.
Man weiß nicht, woher er kommt, weiß nicht, warum er zu Besuch ist, weiß nicht, wie lange er jeweils bleibt. Man weiß nicht, was ihn antreibt, weiß nicht, was ihn nährt, weiß nicht, was ihn ausgerechnet an diesen Tisch führt. Doch man ahnt, wozu er imstande wäre, man fürchtet seine Kraft, seine Kälte, seine Finsternis, seine Erbarmungslosigkeit. Er kann erdrücken, den Atem rauben, die Kehle zuschnüren, er kann nach unten zerren mit aller Gewalt. Und man selbst ist seinem Tun oder Lassen ausgeliefert, machtlos und erschöpft.
Ihn zu bekämpfen ist möglich, aber ernüchternd; auf kleine Siege folgen größere Niederlagen, jeder Aufstand resultiert im nächsten Hinfallen. Mit Wut ist ihm nicht beizukommen, jedes Wort des Zorns prallt an ihm ab, Tränen laufen ins Leere. Der Weg zu diesen Erkenntnissen war steinig, lang und voll des Haderns, unsichtbare Dornen zerrten an der Haut. Doch irgendwann hat man festgestellt, dass man sich leichter zurechtfindet, dass die Schritte weniger schmerzen. Irgendwann wiegte seine Anwesenheit nicht mehr so schwer. Irgendwann hat man angefangen, seinetwegen nicht zu verzagen, sondern ihn anzuerkennen. An die Stelle von Frustration und Verzweiflung sind Duldung und Demut getreten.
Man heißt ihn nicht willkommen, lässt ihm keine Gastfreundschaft zuteilwerden. Man schenkt ihm keinen Wein ein, bricht kein Brot mit ihm. Man ist nach wie vor überzeugt, dass er nicht am richtigen Ort ist, dass er hier nicht hingehört, dass der Platz am Tisch nicht seiner ist. Doch man lässt ihn dort sitzen, hält ihn aus, selbst wenn er wieder zittert und stöhnt und stinkt. Man erträgt ihn, erträgt auch die eigenen Unzulänglichkeiten, die eigenen Ängste, das eigene Dasein in diesen Momenten. Und man erträgt das Ertragen.
Er ist nicht ständig zu Besuch, aber zumindest sporadisch, wiederholt. Bisweilen ist er nur kurz da, dann wieder bleibt er längere Zeit. Wenn er dann geht, bleibt die Gewissheit zurück, dass er wiederkommen wird. Dass er früher oder später wieder dort sitzen wird, am Tisch, mitten im Raum, mitten im Leben, im einzigen Leben, das man hat. Er wird dort sitzen, ohne Gesicht, ohne Augen, ohne Blick, wird alles einnehmen. Zumindest fast alles. Man findet das nicht gut. Man findet das nicht angenehm. Aber man findet sich damit ab.

Der schwarze Vogel. Er scheint zu mir zu gehören, und wenn er sich schon nicht vertreiben lässt, darf er eben bleiben. Freunde sind wir nicht, aber man akzeptiert sich. Er darf bleiben unter der Prämisse, dass er nicht Chef ist. Das passt ihm nicht richtig, aber er nimmt es hin, so wie ich seine mal mehr, mal weniger starke Präsens hinnehme. Annehme, ja.
Danke & Gruß, Reiner
LikeGefällt 2 Personen
Ja, die schwarzen Vögel, Hunde und andere ungebetenen Gäste lassen sich schwer vertreiben; drum macht’s wohl Sinn, zu akzeptieren und einen Umgang zu finden. Auch wenn’s nicht einfach ist.
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und herzliche Grüsse zurück…
LikeGefällt 2 Personen
Nur ein einziges Mal möchte ich so einen Text zustande bringen. Chapeau!
LikeGefällt 3 Personen
Oh, vielen lieben Dank dir für deine Worte!
LikeGefällt 1 Person