Im Jahr 1992 war Hong Kong noch Kronkolonie von Großbritannien, die Übergabe an China aber längst beschlossene Sache. Chris Patten war im Juli zum achtundzwanzigsten und gleichzeitig letzten britischen Gouverneur berufen worden und bemühte sich redlich, die keineswegs problemlosen Beziehungen zur Volksrepublik in den letzten Jahren vor dem Machtwechsel durch liberal-demokratische Reformen zusätzlich zu strapazieren. Gleichzeitig stärkte er jedoch auch das politische Bewusstsein der Bevölkerung Hong Kongs, die sich zunehmend in ein pro-chinesisches und ein pro-britisches Lager spaltete. Nino bekam davon nicht allzu viel mit, denn sein politisches Bewusstsein lag im Tiefschlaf verborgen, während er selbst nur wenig Schlaf bekam. Seine Asienreise, geplant als bereicherndes Erlebnis, das sein gerade erst begonnenes Erwachsenendasein prägen sollte, war bisher nicht so verlaufen, wie er sie sich zu Hause in der Schweiz ausgemalt hatte. Die Tage zogen träge vorüber und trugen Tausende von Menschen vor seinen Augen mit sich, ohne dass ein Gesicht seine Aufmerksamkeit zu erregen vermochte. In den Nächten lag er in kleinen Hotelzimmern und blinzelte in die Dunkelheit, müde und zugleich hellwach. Er versuchte, an seine Mutter zu denken, an seine Freunde in der Schweiz, an Evelyn, in die er schon seit mehreren Jahren heimlich verliebt war, doch selbst diese Menschen, die er kannte, die er liebte, die er vermisste, verblassten vor seinem inneren Auge und ließen ein schwarzes Nichts zurück.
Nach einem ereignisarmen Zwischenstopp in Tokio war Nino in Hong Kong angekommen, hatte ein weiteres kleines Hotelzimmer bezogen, in welchem er in die Dunkelheit blinzeln konnte. Und auch in Hong Kong drohte er in der Anonymität und Reizüberflutung der Metropole unterzugehen. Planlos folgte er der Bewegung der Masse, stets ein wenig geduckt, was er als Zeichen seiner eigenen Unsicherheit deutete. Er warf verstohlene Blicke zu den Gipfeln der Wolkenkratzer, die über ihm in den hellblauen Himmel ragten, warf Blicke auf die überraschend zahlreichen Grünflächen und manchmal sogar in die Antlitze der Menschen auf den Gehsteigen und in den Gassen. Etwas in Nino auszulösen vermochte keiner dieser Blicke. Bis einer davon an zwei Gesichtern hängenblieb, die wiederum in seine Richtung schauten; die Gesichter einer jungen Frau und eines mindestens ebenso jungen Mannes. Für einen kurzen Moment blitzte der Hauch eines Erkennens auf, was womöglich nur daran lag, dass alle drei Augenpaare, die sich da in ein Blickgeflecht verstrickt hatten, eindeutig westlicher Herkunft waren. Der junge Mann war wohl einige Jahre jünger als Nino und lächelte ihn an, wobei sich schiefe Zähne, die an verwahrloste Grabsteine erinnerten, zwischen seine Lippen drängten. Er kam auf Nino zu und zog dabei die junge Frau hinter sich her, die wiederum kein Interesse zeigte, ihre Lustlosigkeit zu verbergen.
«Sie hat ihre Periode», sagte der Junge auf Englisch.
Das Grinsen, das seine seltsame Begrüßung bei Nino ausgelöst hatte, erstarb, als er von einem finsteren Blick der Frau getroffen wurde. Noch ein wenig benommen räusperte er sich.
«Aha. »
«Stimmt gar nicht. Arschloch», wisperte sie vor sich hin, und Nino konnte nur vermuten, dass sie damit nicht ihn meinte.
«Woher kommst du?» fragte der junge Mann, während er sich eine Strähne seiner blonden Haare aus dem Gesicht strich.
«Aus der Schweiz», gab Nino zurück. «Und ihr?»
«Kanada. Unser Vater arbeitet hier in Hong Kong.»
Nino musterte die beiden Gesichter und entdeckte Gemeinsamkeiten. Die eleganten Konturen des Kiefers, das spitz zulaufende Kinn, die braunen Augen. Als Einzelkind war ihm das Geschwisterdasein fremd, er wusste nicht, was Bruder und Schwester füreinander empfinden, wie sie einander sehen, ob sie sich im oder in der anderen erkennen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Nino, was für eine Art von Bruder er gewesen wäre und was es mit ihm gemacht hätte, wenn seiner Mutter und seinem Vater etwas mehr Zeit zur Verfügung gestanden wäre, um weitere Kinder zu zeugen.
Sie hießen Patricia und Patrick und waren nicht nur Geschwister, sondern Zwillinge. Ihr Vater war der kanadische Botschafter in Hong Kong und hatte einen berühmten Namen, ohne allerdings zu dieser Berühmtheit beigetragen zu haben. Francis Bacon gilt neben John Locke und David Hume als Begründer des Empirismus, der alle Erkenntnis in der Philosophie und Psychologie aus Sinneserfahrungen ableitet. Eine der zentralen Aussagen zum Empirismus lautet ‹nihil est in intellectu quid non fuerit in sensu›, was etwa bedeutet, dass nichts im Verstand ist, das nicht vorher durch die Sinne erfasst worden wäre. Diesen Satz hätte sich der eine Francis Bacon, der sich um 1600 in London seinen bis heute zweifelhaften Ruf erwarb, durchaus auf den Arm tätowieren lassen. Der andere Francis Bacon, der Kanadier in Hong Kong, hatte sowohl mit seinen Sinnen als auch mit seinem Verstand so seine Probleme, zumindest behaupteten dies seine Kinder. Zwar hatte er wie sein prominenter Namensvetter einen ausgeprägten Hang zum Philosophieren, doch er konnte seine Umgebung damit von keiner nennenswerten These oder Theorie überzeugen, sondern nur den Verdacht erwecken, dass er geistesgestört war. Und während der erste Francis Bacon erwiesenermaßen homosexuell, gerüchteweise ein außerehelicher Sohn von Königin Elisabeth I. und gemäß der 1885 gegründeten Bacon-Gesellschaft der wahre Verfasser der Werke Shakespeares war, glaubte der zweite Francis Bacon, er sei nicht weniger als der Retter des Universums.
Nino saß mit den Kindern eben dieses Francis Bacon auf einer Holzbank, die im Eingangsbereich eines Einkaufszentrums stand. Während Patrick ihm von ihrem Vater berichtete, starrte Patricia mit unbewegter Miene auf den Boden und bewegte sich nur, wenn ihr Bruder sie hin und wieder in die Rippen knuffte. Dann warf sie jeweils einen knappen, irgendwo zwischen Abscheu und Beschämung pendelnden Blick in die Richtung der beiden anderen und schaute wieder nach unten. Ihre Haare, blond wie die ihres Zwillings, dienten dabei als Vorhang, hinter dem sie nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihre gesamte Identität zu verstecken schien. Im Gegensatz zu Patrick, welcher der Seltsamkeit ihres Vaters vor allem mit Zynismus und laut geäußerter Abneigung begegnete, schien sie Patricia nur peinlich zu sein.
«Wo wohnst du?» fragte Patrick.
«In einem Hotel. Ich kann den Namen nicht aussprechen. Es ist klein, aber in Ordnung.»
«Wir leben in einem Penthouse im achtzigsten Stockwerk. Wenn man hinabblickt, wirken die Autos wie Ameisen. Manchmal werfe ich Dinge hinunter, Münzen oder Büroklammern, oder ich lasse Papierflugzeuge fliegen.»
«Ach ja?»
«Ja. Unsere Mutter wollte auch mal fliegen.»
«Sie wollte fliegen?» Nino war sich tatsächlich nicht sicher, ob er Patrick richtig verstanden hatte.
«Ja. Sie ist aus dem Fenster gesprungen. Vor vier Jahren. Doch sie konnte nicht fliegen. Seither sind wir allein mit unserem verrückten Vater. Und mit unserer Haushälterin.»
«Warum hat sie es getan?»
«Würdest du mit einem Mann verheiratet sein wollen, der glaubt, er sei der Heiland? Jesus hatte keine Frau, Gott hatte keine Frau, nicht in der Bibel, nicht im Koran, nirgends. Dafür gibt es einen Grund.»
Nino schluckte. Nicht nur wegen der Tatsache, dass sich die Mutter das Leben genommen hatte, sondern vor allem über die Art, wie Patrick die Umstände beschrieb. Es klang, als schildere er die Geschichte eines Filmes, den er einmal gesehen hatte. Kein Zucken durchzog sein Gesicht, keine physische Bewegung ließ darauf schließen, dass er und seine Schwester an der Tragödie beteiligt gewesen waren. Doch Nino glaubte nicht, dass Patrick sie erfunden haben könnte. Sonst hätte ihn Patricia wohl längst ermahnt, über solche Dinge keine Witze zu machen. Doch sie war noch immer gefangen in ihrer Starre und schob lediglich ihren Fuß unaufhörlich vor und zurück.
«Wart ihr … Warst du traurig?», fragte Nino und biss sich sogleich auf die Unterlippe. Es war eine dumme Frage, doch ihm war keine bessere eingefallen, um das Schweigen zu brechen, das zwischen ihnen entstanden war. Umso mehr überraschte ihn Patricks Antwort.
«Nein, ich freute mich», meinte er und hielt inne. «Ich freute mich für sie. Klar, es hätte wohl noch andere Möglichkeiten gegeben, um von ihm wegzukommen. Aber sie war müde, verstehst du? Sie war so verdammt müde. Natürlich fehlte sie mir, sie fehlt mir noch immer, aber ich war nicht richtig traurig.»
«Ich war traurig», flüsterte Patricia zwischen ihren Haaren hervor. «Vor allem war ich neidisch.»
«Neidisch?» wollte Nino wissen, obwohl er glaubte, den Sinn ihrer Worte bereits erkannt zu haben.
«Ja. Sie hatte ihren Frieden gefunden. Und uns zurückgelassen.»
Nino suchte nach einer Frage, die er stellen konnte, um das ungeahnt interessante Gespräch am Leben zu erhalten. Auch verspürte er den Drang, über seinen eigenen Vater zu reden, über dessen frühen Tod, als Nino noch ein Kleinkind war, über das Fehlen der Vaterrolle in seiner Geschichte, über das immerwährende Vakuum, über die Verbindung zu seiner Mutter. Doch plötzlich stand Patrick auf und schaute auf seine Uhr.
«Wir müssen gehen. Abendessen machen für unseren Vater. Die Haushälterin kocht nicht.»
«Okay», sagte Nino und hob die Hand, um sich zu verabschieden.
«Willst du mitkommen?», fragte Patricia nach einem Räuspern.
«Ja, komm doch mit. Oder hast du etwas vor?»
Ein wenig verunsichert schüttelte Nino den Kopf.
«Na also, dann komm. Wir müssen noch einkaufen. Übrigens, wir sind Vegetarier.»
«Ich auch», brachte Nino heraus.
«Gut. Das ist gut.»
***
Nino hatte sich einen langhaarigen, hageren Sonderling mit verklärtem Blick und Sandalen an den Füssen vorgestellt, doch Francis Bacon war eine ungleich wuchtigere Erscheinung. Ein teuer aussehendes Hemd versuchte vergebens, einen muskulösen Oberkörper mit mächtigem Bizeps und breiter Brust zu kaschieren. Seine Schultern stiegen steil an und gingen unbemerkt in ein kurzes, halsähnliches Gebilde über. Sein Schädel war kahl, er hatte nicht einmal Augenbrauen. Sein schmallippiger Mund, seine knorrige Nase und seine prägnanten Wangenknochen standen in starkem Gegensatz zu den feinen Gesichtszügen seiner Kinder, die wiederum auf eine äußerst attraktive Mutter schließen ließen.
«Woher kommst du, Sohn?» fragte Francis Bacon, nachdem Patrick ihn vorgestellt hatte. Nino erschrak ein wenig, das Wort Sohn hallte in seinen Ohren nach wie ein akustischer Fremdkörper. Außerdem klang das Organ des Mannes unnatürlich tief, aber dennoch laut und bestimmt.
«Aus der Schweiz», stieß Nino schließlich hervor, unsicher, beinahe fragend.
«Aha», brummte Francis Bacon, und Nino deutete die knappe Bemerkung als Zeichen, dass er nicht vorhatte, allzu viele Worte mit ihm zu wechseln. Doch er deutete falsch.
Die Zwillinge hatten frische Tomaten und einige Pilze gekauft und daraus eine ziemlich fade Sauce für Pasta gemacht. Alle setzten sich an einen schlichten und für vier Personen viel zu großen Tisch, und während Patricia mit langsamen Bewegungen die Teller füllte, sah Nino sich im Raum um. Die Wände waren weiß und kahl wie Bacons Kopf, kein einziges Bild war aufgehängt. Ein schmuckloser Schrank stand in einer Ecke, außerdem war da noch ein winziger Tisch neben der Tür, doch ansonsten waren Esstisch und Stühle die einzigen Möbelstücke. Auch der vielflammige Deckenleuchter konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser sogenannte Speisesaal weniger Atmosphäre und Persönlichkeit aufwies als die Hotelzimmer der Billigklasse, in denen Nino zu nächtigen pflegte. Selbst die Kruzifixe und anderen religiösen Reliquien, die Nino erwartet hatte, fehlten vollkommen.
Sie schoben schweigend die Pasta in ihre Münder und spülten sie mit Wasser hinunter, das in kleinen Flaschen auf dem Tisch stand, als ein tiefes Grummeln ertönte.
«Worin siehst du den Sinn des Lebens, mein Sohn?» Francis Bacon richtete seine Frage nicht etwa an Patrick, sondern warf einen stechenden Blick auf Nino. Er zuckte zusammen, und in seiner Speiseröhre stellte sich eine Nudel quer. Der Vater schien keine Zeit mit Smalltalk verschwenden zu wollen.
«Den Sinn des Lebens? Ich weiß nicht. Ich verstehe nicht ganz, was…»
«Die Frage ist einfach: Worin liegt der Sinn des Lebens? Und die Antwort ist ebenso einfach.»
«Ach ja? Und wie lautet sie?», fragte Nino, bereits befürchtend, in welche Richtung sich das Gespräch entwickeln würde.
«Gott, natürlich. Er gibt deinem Leben einen Sinn. Als eines seiner Geschöpfe ist es deine Aufgabe, deine Pflicht, ihm zu dienen. Nach einem anderen Sinn brauchst du gar nicht zu suchen.»
«Und was ist, wenn man nicht an Gott glaubt?»
Die Frage verwirrte Francis, und auch Patricia und Patrick hörten auf zu kauen und blickten Nino an. Er legte sein Besteck ab und lehnte sich zurück, eher defensiv als entspannt.
«Du glaubst nicht an Gott?»
«Nein, nicht wirklich.»
«Dann hast du in meinem Haus nichts zu suchen. Verschwinde!»
«Vater! Er ist unser Gast! Es ist sein Leben, also lass es gut sein», protestierte Patricia, und obwohl Nino überaus froh war, dass sie ihn zu verteidigen versuchte, wich er dem kurzen Blick aus, den sie ihm zuwarf.
„Es ist nicht gut», polterte Francis, mäßigte aber sogleich seine Stimme. «Das ist gar nicht gut. Du wirst schrecklich allein sein, mein Junge. Eine Welt ohne Gott ist nichts als einsam.»
«Ich glaube nicht, dass ich mich weniger einsam fühlen würde, wenn es einen Gott für mich gäbe», sagte Nino.
«Also bist du einsam.»
«Ja, schon», gab er zu, «doch das hat nichts mit Gott zu tun.»
«Wenn du dich da mal nicht täuschst, mein Junge. Ich verspreche dir, wenn du zu Gott findest, wird dein Leben so viel reicher und erfüllter sein.»
«Das bezweifle ich.»
«Hast du ihn schon einmal gesucht?», wollte Francis wissen, während sein Gesicht allmählich eine rote Färbung entwickelte. «Denn nicht er muss dich finden, sondern du ihn. Hast du schon einmal versucht, ihn zu finden?»
«Nein, habe ich nicht.»
«Das solltest du aber. Ich kann dir helfen, wenn du willst.»
«Nein, danke.»
«Weißt du, ich bin auch nicht erleuchtet zur Welt gekommen. Und ich habe früher viele schreckliche Dinge getan. Habe gesündigt. Doch Gott hat mich geheilt, hat mich zu einem guten Menschen gemacht. Erst an jenem Tag, an dem ich ihm begegnen durfte, begann mein richtiges Leben.»
«Sie sind ihm begegnet?»
«Ja, das bin ich. Du darfst dir das nicht vorstellen wie ein Zusammentreffen von Menschen. Es ist nicht so, dass wir uns in ein Restaurant gesetzt und uns unterhalten haben. Es war nicht körperlich, vielmehr fand die Begegnung auf einer spirituellen Ebene statt. Ich konnte seine Anwesenheit spüren, konnte fühlen, wie er mich umarmte. Ich empfing seine Kraft. Und seither hat mein Leben einen Sinn.»
«Und der Sinn liegt darin, an ihn zu glauben?», wollte Nino wissen.
«Nicht nur das. Ich bin sein Bote, durch mich spricht er.»
«Also sind Sie ein Prediger?»
«Nein, ich sagte Bote, nicht Prediger!», rief Francis Bacon aus, und die Adern an seinem Hals traten hervor. «Ein Prediger steht in einer Kirche und langweilt die Menschen mit Bibelpassagen. Ich verbreite die Wahrheit!»
Nino suchte nach einem Ausweg aus der Diskussion. Die Zwillinge kauten schweigend vor sich hin und starrten Löcher in die Tischplatte. Ihnen schien ihr Vater peinlich zu sein, aber vielleicht war ihnen auch peinlich, dass sie Nino als Gast zu sich nach Hause gebracht hatten. Womöglich hatten sie die Wahrheit ebenfalls empfangen und konnten nicht verstehen, warum Nino sich dagegen sträubte.
«Nun, die Wahrheit wird mich nicht erreichen, ich bin nicht empfänglich für sie. Es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass Sie mir irgendeinen Weg zu Gott zeigen könnten. Mir fehlt nicht nur der Glaube, mir fehlt vor allem der Wille zum Glauben.»
«Das lässt sich ändern. Komm nachher zu mir in das gesegnete Zimmer. Ich werde dir zeigen, wie du zu Gott finden und seine Liebe empfangen kannst.»
«Es tut mir leid, aber ich verzichte», murmelte Nino und wunderte sich gleichzeitig, wie das gesegnete Zimmer wohl aussehen könnte.
«Du weigerst dich also, die Wahrheit zu erfahren?», fragte Francis in einem bedrohlichen Ton.
«Ja, so ist es wohl.»
«Na gut. Ich kann dich nicht zwingen. Aber betrachte dich hiermit als gestorben. Du bist tot für mich, und du bist tot für Gott.»
Sein Todesurteil klang so lächerlich, dass sich Nino ein Grinsen verkneifen musste. Gleichzeitig fühlte er sich unwohl. Die Worte von Francis Bacon ließen ihn erschaudern. Nino hätte gerne etwas erwidert, doch der Vater stand ruckartig auf, kippte dabei seinen Stuhl um, und nachdem er ihn wieder aufgerichtet und an den Tisch geschoben hatte, ging er wortlos aus dem Raum und knallte die Türe zu.
«Es tut mir leid», flüsterte Patrick in die Stille, die sich unvermittelt ausgebreitet hatte.
«Ist schon gut», gab Nino zurück. «Soll ich gehen?»
«Nein», sagte Patricia. «Er wird heute nicht mehr aus seinem Zimmer kommen.»
«Ist es das gesegnete Zimmer?»
«Ja.»
Den Rest des Abends verbrachten die drei im Patricks Zimmer. Zwar war es nicht so schmucklos eingerichtet wie der Speiseraum, doch auch hier fanden sich keine Bilder an den Wänden. Immerhin gab es ein Radio, und während sie leise Musik hörten, erzählte Nino den Zwillingen von seiner Reise. Als er die beiden schließlich fragte, ob sie noch zur Schule gingen oder arbeiteten, zuckten sie gleichzeitig mit den Schultern.
«Wir haben zwar die Schule abgeschlossen, doch wir dürfen nicht arbeiten», erklärte Patrick. «Vater erlaubt es uns nicht. Er meint, er habe wichtigere Aufgaben für uns. Bisher hat er uns aber noch nicht gesagt, worum es sich dabei handelt.»
«Und was macht ihr die ganze Zeit?», fragte Nino ungläubig.
«Nun, wir schlendern durch die Stadt, sitzen im Zimmer, hören Musik. Wir kochen, mehr nicht.»
«Habt ihr keine Freunde?»
«Nicht wirklich. Niemand, den wir kennen, kann die Erwartungen unseres Vaters erfüllen, also verbietet er uns den Umgang mit ihnen.»
«Ach, kommt schon, ihr seid achtzehn Jahre alt, oder? Warum zieht ihr nicht aus?»
«Wo sollen wir denn hin?», zischte Patricia. «Wir kennen niemanden, wir haben kein Geld, keine Ausbildung.»
«Sucht euch einen Job. Nehmt euch eine Wohnung. Klar würde es am Anfang schwer werden, doch ihr könntet es schaffen, glaubt mir.»
So viel Optimismus kannte Nino bei sich gar nicht, und er wunderte sich, warum er ihn nicht auf sich selbst anzuwenden vermochte. Doch die Zwillinge zeigten sich unbeeindruckt und blickten sich traurig an.
«Einmal, da haben wir es beinahe getan», flüsterte Patrick. «Wir haben unsere Taschen gepackt und das Haus verlassen. Doch wir hatten praktisch kein Geld, nur die paar Scheine, die uns Vater zum Einkaufen gegeben hatte. Und wir hatten Angst. Nicht wahr, Patricia, wir hatten Angst.»
Patricia nickte. Ihre Augen glänzten feucht im schwachen Schein der kleinen Lampe, die neben dem Bett stand. Patrick legte seinen Arm um ihre Schulter und neigte seinen Kopf zu ihr hin. So fremd ihm die Situation der Zwillinge auch war, ihre Angst konnte Nino nachfühlen, zumindest ein wenig. Es gibt wohl keine größere Hürde als Angst.
«Ihr müsst es versuchen», insistierte Nino, aber sie zuckten nur zum wiederholten Mal mit ihren Schultern.
Es war erst etwa zehn Uhr, doch sie hatten bereits das Licht gelöscht und lagen im Bett, Patricia in ihrem Zimmer, Nino mit Patrick in seinem. Nino hatte eine grobfaserige Wolldecke bekommen und sich auf einem kleinen Teppich ausgebreitet. Von Patrick war nur ein gleichmäßiges Schnaufen zu hören, aus dem zu schließen war, dass er den Wachzustand bereits hinter sich gelassen hatte. Nino gönnte ihm die Flucht in den Schlaf und hoffte, dass er wenigstens dort ein wenig Freiheit empfinden konnte. Begleitet von einem überdurchschnittlich großen Gedankenwirrwarr in seinem Kopf tastete sich Nino ebenfalls langsam dem Schlummer entgegen.
Als Nino aufschreckte, lag Patrick nicht mehr in seinem Bett. Die nächtliche Helligkeit Hong Kongs drang in das Zimmer und tauchte es in ein fahles Licht. Nino setzte sich auf und horchte auf Geräusche. Vielleicht war Patrick bloß kurz zur Toilette gegangen oder hatte sich etwas zu trinken geholt. Doch eine geschätzte Viertelstunde später war Nino noch immer allein im Raum. Er hätte liegenbleiben können, hätte versuchen können, zurück in den Schlaf zu finden. Es hätte ihm egal sein sollen, wo sich Patrick befand, vielleicht sogar egal sein müssen. Aber es war ihm nicht egal. Er war verunsichert. Und er war neugierig.
Nino stand auf, schlich zur Tür und öffnete sie so leise wie möglich. Der Korridor war dunkel. Langsam trat er hinaus, blieb einige Augenblicke stehen und wartete, bis sich die ersten Konturen und Formen aus der Finsternis schälten. Unter der Tür zum gesegneten Zimmer war ein schwacher Lichtschein zu erkennen, doch er wagte nicht, sich anzunähern. Zwischen den Schlafzimmern der Zwillinge befand sich ein kleiner Abstellraum. Als Nino den Lichtschalter ertastet und ihn nach oben geschoben hatte, tat sich eine chaotische Ansammlung von kleinen Schränken, Schachteln und Kisten auf, beschriftet mit seltsamen Symbolen. Nino schaute sich kurz um, schreckte aber vor einer genaueren Untersuchung zurück. Zögerlich ging er weiter, warf einen Blick in das Badezimmer auf der anderen Seite des Korridors, doch auch hier war Patrick nicht. Schließlich trat er vor die Türe zu Patricias Zimmer, unter der ebenfalls ein wenig Licht zu sehen war. Nino verharrte und lauschte, hörte aber nichts. Dann klopfte er leise, und als niemand antwortete, drückte er die Türklinke hinunter und spähte hinein.
Das schwache Licht rührte von einigen Kerzen, deren flackernde Flammen die Schatten tanzen ließ. Abgesehen von diesen ungewohnten Bewegungen sah Patricias Zimmer ähnlich nüchtern und karg aus wie der Rest der Wohnung. Immerhin erblickte Nino das erste Kruzifix. Es hing über dem Bett.
Patricia lag auf dem Rücken. Sie war vollkommen nackt, die Decke war zu Boden gefallen. Ihre Brüste hoben und senkten sich sanft im Rhythmus ihrer Atmung und waren überraschend groß, viel größer als Nino sie sich unter ihrer Bluse vorgestellt hatte. Ihre blonden Haare wirkten dunkler als zuvor und breiteten sich wie ein Fächer auf dem Kissen aus. Patricias Augen waren geschlossen, und unter leichtem Stöhnen biss sie sich auf ihre Unterlippe. In ihrem Schoss, eingerahmt von ihren angewinkelten Beinen, lag Patricks Kopf und bewegte sich kaum merklich. Er kniete am Bettende, sein nacktes Gesäß weit nach oben gestreckt. Seine Hände umfassten die Schenkel seiner Schwester.
Während Nino bewegungslos in der Tür stand und vorübergehend das Atmen einstellte, öffnete Patricia ihre Augen und schaute ihn an. Ein wenig beschämt senkte Nino seinen Blick, doch als er kurz darauf wieder zu ihr hinsah, fixierte sie ihn immer noch, ruhig und scheinbar ungerührt. Dann lächelte sie und schloss ihre Augen wieder. Patrick bemerkte ihn nicht. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, hörte Nino Patricia leise aufstöhnen.
Als Nino im Morgengrauen erwachte, war Patrick noch nicht in sein Zimmer zurückgekehrt, und während sich vor dem Fenster Nacht und Tag begegneten, zog Nino sich hastig an. Er schrieb ein schmuckloses ‹Danke› auf einen kleinen Zettel und legte ihn auf Patricks Bett. Dann trat er auf den Korridor, der in seiner Stille eine seltsame Friedlichkeit ausstrahlte. Im Badezimmer starrte er sich einige Minuten lang in die Augen, schüttete sich kaltes Wasser ins Gesicht und verließ schließlich das Penthouse.
***
Es überraschte Nino, dass ihn das, was er gesehen hatte, nicht schockierte. Es war befremdend, doch auf eine seltsame Weise auch verständlich. Er hatte nicht das Recht, sich ein Urteil über die Zwillinge zu bilden, und er tat es auch nicht, doch wenn er es getan hätte, wäre es wohl relativ versöhnlich ausgefallen. Immer wieder hörte er Patricias Worte von jenem Abend.
«Weißt du, seit Mutter tot ist, haben Patrick und ich nur noch uns. Klar, Vater ist noch da, aber wir haben ihn nicht. Er existiert, aber nicht wirklich als Vater. Er ist eher eine Art Gefängniswärter. Und manchmal müssen wir eben kleine Fluchten antreten, um dem Gefängnis zu entrinnen.»
Sie hatte geschwiegen, als Nino wissen wollte, wie denn diese Fluchten aussahen. Doch nun schien diese Frage beantwortet. Vielleicht hatte sie deshalb gelächelt, nachdem sie ihn in der Tür erblickt hatte.
An der Bar seines Hotels bestellte sich Nino einen Kaffee zum Mitnehmen, ging auf sein Zimmer, setzte sich an den kleinen Schreibtisch und holte sein Notizbuch hervor.
Mittwoch, 23. September 1992, Hong Kong
In Richard Wagners Walküre entbrennen die Zwillinge Siegmund und Sieglinde in Liebe zueinander. Ihre inzestuöse Vereinigung resultiert in der Zeugung von Siegfried. Ich will bei Patricia und Patrick nicht so weit denken. Überhaupt würde ich mich gerne von dem Wissen befreien, dass es sich bei den beiden um Geschwister handelt. Der Blick, den mir Patricia zuwarf, als ich sie entdeckte, will mich nicht mehr loslassen. Er war unschuldig und zutiefst friedlich, ein Frieden, der so gar nicht zur Illegalität und zum Tabu von Inzest passen mag. Ich weiß nicht, ob sie sich bewusst sind, dass ihre Liebe in gesellschaftlicher Hinsicht nur auf Ablehnung stoßen und niemals Anerkennung finden kann, doch ich glaube, es ist ihnen egal. Die Gesellschaft existiert für sie nicht, sie sind kein Teil von ihr.
Wahrscheinlich habe ich ihnen Unrecht getan, als ich einfach gegangen bin, ohne mich zu verabschieden. Aber ich werde mir keine Vorwürfe wegen irrationalem Verhalten machen, schließlich war die Situation so weit vom Alltäglichen entfernt, dass ein rationales Verhalten gar nicht hätte definiert werden können. Am Ende war es wohl nicht nur Unbehagen, das mich flüchten ließ, sondern auch eine gewisse Angst davor, mich mit ihnen darüber unterhalten zu müssen. Und ich hatte schlicht keine Ahnung, wie ich mich hätte verhalten sollen.
Nun bin ich wieder im Hotelzimmer, das ungleich reicher ausgestattet und geschmückt ist als die Wohnung von Francis Bacon und seinen Kindern, das mich aber dennoch mit einer erdrückenden Leere empfangen hat. Zwar verspüre ich ein seltsam zufriedenes Gefühl, ebenso die Gewissheit, etwas Wunderschönes erfahren zu haben, auch wenn es die tiefe und körperliche Liebe unter Zwillingen ist. Zugleich kann ich diese Liebe gar nicht richtig einordnen. Nicht nur, weil mir Geschwisterliebe fremd ist. Sondern auch, weil mir im Moment jegliche Art der Nähe, die Patricia und Patrick offenbar miteinander verbindet, fremd ist.
Ich hatte der Situation der Zwillinge mit Mitleid begegnen wollen. Doch das Mitleid, das verdammte Mitleid, es fällt auf mich zurück.
Am nächsten Tag fragte Nino die junge Frau am Empfang des Hotels, ob sie ihm eine Sehenswürdigkeit empfehlen könne, und folgte ihrem Rat. Peak Tram heißt die Bahn, die den Victoria Peak bis zum Aussichtsturm Victoria Tower erklettert, und dass es sich dabei um eine Schweizer Zahnradbahn handelt, hätte Nino vielleicht ein wenig stolz machen oder zumindest heimatliche Gefühle auslösen müssen, doch Patriotismus war ihm ähnlich suspekt wie Gott.
Als er am Victoria Tower ausstieg, verzichtete er darauf, auf den Turm zu steigen, sondern ging zu Fuß bis zum Gipfel des Victoria Peak, der mit 552 Metern zwar nicht der höchste Berg von Hong Kong, aber doch von Hong Kong Island ist. Unter ihm flossen dunkle Wälder hinab in die Stadt, die sich als ebenso beeindruckende wie einschüchternde Ansammlung von Wolkenkratzern zeigte. In einem dieser Gebäude lebten die Zwillinge mit ihrem gottesfürchtigen Vater. Ein losgelöstes Dasein, eine Insel im Getöse. Ein kleines Universum für sich. Der Gedanke, dass es allein in Hong Kong noch Millionen und auf der ganzen Welt gar Milliarden anderer Universen geben musste, war verblüffend, erschreckend. Und es war tröstlich. Es war relativierend.
«Manchmal müssen wir eben kleine Fluchten antreten.» Nino konnte Patricias Schulterzucken geradezu hören. Es klang lauter als das Rauschen und Dröhnen und Brummen Hong Kongs.

Diese Geschichte entstand ursprünglich für einen Roman, der glücklicherweise nie das Licht der Welt erblickt hat. Apropos Roman: «delfin» erscheint am 2. September 2024.
Wunderbar geschrieben. Man kann direkt in die Atmosphäre eintauchen…
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und fürs Eintauchen und für deine Worte!
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Was für ein Gesandter Gottes.
Kein Wunder, die „kleinen Fluchten“.
Eine schräge wie berührende Geschichte.
Danke & Grüße, Reiner
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen! Herzliche Grüsse zurück…
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