Er ist da draussen. Du kannst seinen Kopf sehen, die Haare, manchmal einen Arm, der aus dem Wasser ragt und zaghaft winkt. Es ist ein Mensch, ganz sicher ist es ein Mensch, und wahrscheinlich ist der Mensch ein Mann, doch er ist zu weit weg, um sicher sein zu können. Du vermutest, dass es ein Mann ist, denn mehr als Vermuten liegt nicht drin. Du weisst es nicht, du weisst es nicht genau, aber dieses Nichtwissen und Nichtgenauwissen spielt nahezu keine Rolle, das Nichtwissen und Nichtgenauwissen ist egal. Er ist da draussen. Es geht nicht um dich.
Er ist jeden Tag da. Wenn du am Morgen nach einer unruhigen Nacht erwachst und dich ans Wasser begibst, ist er da, der Mann, der Mensch, er ist da draussen, er schlägt um sich, er winkt, womöglich ruft er, doch du kannst ihn nicht hören, das Wasser ist zu laut, aber eigentlich bist du sicher, dass er ruft, schliesslich wäre es absolut widersinnig, in einem solchen Moment nicht zu rufen und stumm zu bleiben. Wer gerettet werden will, darf nicht still bleiben. Das gilt auf dem weiten Wasser. Das gilt auch sonst. Du kannst ihn nicht hören, aber du bist sicher, dass er ruft.
Der Mensch, der Mann, er ertrinkt. Er ertrinkt jeden Tag, und du, du gehst ins Wasser. Es ist kalt, das Wasser, eiskalt, es treibt dir tausend Nadeln in die Haut, und die Nadeln, sie reichen bis zu den Knochen. Du schwimmst einige Züge, und während die Kälte dich immer mehr ausfüllt, merkst du, dass die Strömung zu stark ist, du ihr nichts entgegenzusetzen hast. Du kommst kaum vom Fleck, und je länger du es versuchst, desto mehr schwinden die Kräfte, bis du dich erschöpft zurücktreiben lässt, zurück ans Ufer.
Er ist da draussen, er ertrinkt, er ertrinkt jeden Tag, er ertrinkt jeden Tag ein bisschen mehr, und du, du fühlst dich jeden Tag ein bisschen machtloser, ein bisschen hilfloser, ein bisschen weniger kompetent, ein bisschen weniger nützlich. Du fragst dich, ob eine andere Person an deiner Stelle diesen Mann retten könnte, ob sie weniger machtlos wäre, weniger hilflos, kompetenter, nützlicher. Du fragst dich, ob es dein Fehler ist. Doch eigentlich weisst du: Es geht nicht um dich.
Du machst einen Schwimmkurs, einen Lebensrettungskurs, du macht jeden Kurs, der dir sinnvoll und zielführend erscheint, doch keiner dieser Kurse bringt dich deinem Ziel näher, keine dieser Kurse hat einen Sinn, denn du bist noch immer weit weg von diesem Mann, kannst ihn nicht erreichen, gelangst nicht in seine Nähe. Immer wieder schwimmst du erschöpft und ernüchtert zurück ans Land, lässt dich von den Wellen ans Ufer werfen, wo du ein paar Minuten liegenbleibst und in den Himmel blickst. Manchmal fliegt eine Möwe über dich hinweg. Du fändest es passend, wenn sie genau über dir ihren Kot ablassen und dieser auf dir landen würde. Doch es passiert nicht. Die Möwe scheisst dir nicht auf den Kopf. Aber das macht es nicht viel besser. Und überhaupt: Es geht nicht um dich.
Manchmal wirst du wütend. Wütend auf den Mann da draussen, weil er dort ist, weil er winkt, weil er ertrinkt. Wütend auf dich selbst, weil du nichts tun kannst, weil du nicht helfen kannst, weil du ihn nicht retten kannst. Wütend auf alles und jeden. Wütend auf das Scheitern. Wütend auf die Wut. Häufig beruhigst du dich wieder. Gehst weg vom Wasser, atmest ein, atmest aus, trinkst ein Glas Wein, dann noch eines, lässt dich ablenken durch Banalitäten und bunte Lebensimitationen auf Bildschirmen. Hin und wieder nimmst du die Wut ins Bett und spürst, wie sie in deinen Eingeweiden rumort und Knoten bildet und dich vom Schlafen abhält. Irgendwann schläfst du dennoch ein. Die Wut ebenfalls.
Jeden Tag gehst du ans Wasser. Jeden Tag ist er da draussen. Jeden Tag winkt er, ertrinkt er. Und jeden Tag bleibt dir das Scheitern, dein Scheitern, das Scheitern deiner Menschlichkeit. Mit der Zeit stellst du fest, dass du seltener ins Wasser gehst, dich weniger weit hinauswagst. Bisweilen sitzt du lediglich am Ufer, blickst hinaus aufs Wasser und dann wieder hinauf zu einer Möwe am Himmel.
Eines Morgens stehst du wieder da, stehst am Wasser, blickst hinaus, erwartest das gewohnte Bild, doch es bleibt aus. Du siehst das Wasser, die Wellen, die Möwen, den Himmel. Aber der Mann, der winkende, ertrinkende Mann, er fehlt. Sein Kopf ist nicht mehr da, seine Haare sind nicht mehr da, sein Arm ist nicht mehr da. Er winkt nicht mehr, ertrinkt nicht mehr. Dir wird klar: Er hat dich verlassen. Er hat dich zurückgelassen, dort am Wasser, in der salzigen Luft unter den Möwen, die über deinen Kopf fliegen. Du weisst nicht, was passiert ist, weisst nicht, ob er untergegangen ist oder gerettet wurde. Eines dieser beiden Szenarien muss eingetreten sein, du hoffst auf eine Rettung, aber eben, du weisst es nicht, du weisst es nicht genau, aber dieses Nichtwissen und Nichtgenauwissen spielt nahezu keine Rolle, das Nichtwissen und Nichtgenauwissen ist egal. Er ist nicht mehr da draussen. Es geht nicht um dich.

Der ertrinkende Mann ist ein drängendes Bedürnis. Jeden Tag meldet er sich und schreit um Hilfe, um Erlösung und nach der Küstenwache.
Solange, bis entweder die Resignation wie die Flut kommt und das Bedürfnis langsam in den Wassermassen erstickt oder aber bis der ertrinkende Mann angeschwommen und an Land gezogen wird. In Deinem Szenario erscheint mir dieser Frieden trügerisch wie eine Wasserspiegelung, herbei gewünscht um den Preis von was?
Von einem Leben, das sich anders als Ertrinken anfühlt – vielleicht…
Mit lieben Grüßen
Amélie
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Liebe Amélie, vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, die Gedanken, die unter die Wasseroberfläche reichen… Herzliche Grüsse zurück!
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