Sie steht auf ihrem Balkon und raucht und schaut, schaut zum Nachbarn gegenüber, denn der Nachbar steht auf seinem Balkon und raucht und schaut, schaut nicht zu ihr, sondern hinaus ins Weite, ins Leere, zum Himmel, und sie kennt diesen Blick, kennt ihn gut, und würde sie nicht zum Nachbarn schauen, würde sie wohl genauso schauen wie er, hinaus ins Weite, ins Leere, zum Himmel, während die Augen allmählich eintrocknen, und als der Nachbar seinen Blick vom Weiten und Leeren und vom Himmel löst und direkt in ihre Richtung bewegt, hebt sie ihrerseits den Blick, reflexartig und hastig, lässt ihn rasch nach oben wandern, der grauen Fassade entlang und über schmutzige Stellen stolpernd, und einige Meter über dem Balkon des Nachbarn ist das Haus zu Ende, und darüber und dahinter beginnt der Himmel, der wie ein grauweißes Bettlaken über der Stadt liegt, sie zudeckt wie ein Tier, alles liegt im gleichen Grauweiß da, nur zwei dunkle Flecken durchbrechen die Ebenmäßigkeit, es sind zwei Krähen, sie fliegen hintereinander her, und sie ist froh, dass sie den Vögeln zuschauen kann, denn sonst gäbe es nichts zu sehen, nur das Weite, die Leere, den Himmel, und sie weiß, was dies mit ihrem Blick machen würde, und die Krähen, sie jagen sich, vielleicht im Spiel, vielleicht im Kampf, sie vermag es nicht zu beurteilen, und sie lauscht auf das Krähen der Krähen, doch die Vögel fliegen stumm, lassen ihre seltsamen Flugkapriolen unkommentiert, und wäre da nicht das diffuse Rauschen der Autos auf der fernen Straße, sie würde an ihrem Hörvermögen zweifeln, so still liegt die Stadt und so still fliegen die Krähen, doch irgendwann fliegen die Krähen still aus ihrem Blickfeld, lassen es grauweiß zurück, und nun gibt es nichts mehr zu sehen, nur das Weite, die Leere, den Himmel, oder aber den Nachbarn, sie könnte wieder zu ihm hinschauen, könnte prüfen, ob er noch immer zu ihr schaut oder ob sein Blick sie vielleicht nur gestreift hat und längst auf eine andere Stelle getroffen ist, die sich anzusehen lohnt, doch sie wagt es nicht, zu ihm hinzuschauen, sie befürchtet, ertappt zu werden, beim Hinschauen oder Starren erwischt zu werden, ihr widerstrebt vor allem das Gefühl, das darauf folgt, jenes seltsame Taumeln, diese Aufwallung in ihrem Innern, und um es zu vermeiden, heftet sie ihren Blick an ihre Zigarette, beobachtet, wie der Rauch dünn und grau von der Spitze aufsteigt, sie zieht an der Zigarette und bläst den Rauch hinaus und hinauf, betrachtet die Schwaden, wie sie sich dehnen und zerfließen, sich allmählich vor dem grauweißen Hintergrund des Himmels auflösen, und als von der Zigarette nur noch ein kleiner Stummel übrigbleibt, drückt sie diesen Stummel in einem mit Erde gefüllten Topf aus, lässt ihn neben den anderen Stummeln liegen, und eine weitere Zigarette rauchen mag sie nicht und auf dem Balkon bleiben, ohne zu rauchen, will sie auch nicht, und somit gibt es nun noch zwei Möglichkeiten, sich der Situation zu entziehen, sie könnte sich abwenden und hineingehen und dabei noch kurz zu ihrem Nachbarn hinüberschauen, oder sie könnte sich abwenden und hineingehen, ohne den Blick zu heben, was der einfachere Weg wäre, der bequemere Weg, und während sie um eine Entscheidung ringt, ärgert sie sich über ihr Verhalten, kann kaum nachvollziehen, warum sie einem möglichen Blickkontakt mit dem Nachbarn so viel Bedeutung beimisst, warum sie ihn auflädt mit Relevanz, schließlich kann er ihr egal sein, der mögliche Blickkontakt, auch der Nachbar kann ihr egal sein und ist es eigentlich auch, sie findet den Nachbarn weder anziehend noch interessant, auch will sie nichts über ihn wissen, seine Existenz ist weniger als eine Randnotiz in ihrem Leben, doch wahrscheinlich geht es auch nicht um den Nachbarn an sich, er ist lediglich ein Platzhalter, sein Anblick ist ein Symbolbild für ihr Unbehagen, von anderen Menschen taxiert und gemustert zu werden, sie fühlt sich exponiert, glaubt sich dem Urteilen und Beurteilen und Verurteilen durch bekannte und unbekannte Personen schutzlos ausgesetzt, und auch wenn sie versucht, dieses Empfinden durch rationale Argumente zu entkräften, bleibt sie unvermindert verunsichert, bleibt gelähmt und schwankend zugleich, doch nun, nach dem Schwanken, macht sie einen Schritt hin zur Balkontür, dann einen weiteren Schritt, und endlich, kurz vor dem Hineingehen, schaut sie mit schlecht gespielter Beiläufigkeit zum Haus gegenüber und erkennt, dass der Balkon leer ist, der Nachbar ist nicht mehr zu sehen, und in diesem Moment ist sie nicht sicher, ob dies eine gute oder eine ungute Tatsache ist, und sie dreht abrupt um, geht zurück zur Mitte des Balkons, zündet sich doch noch eine Zigarette an, und nun steht sie da, steht auf ihrem Balkon und raucht und schaut, schaut nicht zum Nachbarn gegenüber, denn der Nachbar steht nicht auf seinem Balkon, also schaut sie hinaus, schaut hinaus ins Weite, ins Leere, zum Himmel, obwohl es dort nichts zu sehen gibt, nicht einmal Krähen.

Wen die Leere und Weite des Himmels erschreckt, fürchtet sich in Wahrheit vor der eigenen inneren Leere und Weite. Sie kann sehr groß, langweilig und krähenlos sein. Manche halten sich an einer Zigarette fest und andere wiederum würden sich ihre Einsamkeit niemals eingestehen, wenn sie so tun als suchten sie auf keinen Fall zweite Chancen.
Um einen leeren und weiten Himmel mit schwarzflattrigen Krähenschwärmen zu füllen, bräuchte es den Mut, sie anlocken zu wollen. Mit ein paar Rauchzeichen vielleicht.
Ei wie schön, eine Geschichte, wie nur Du sie schreiben kannst.
Liebe Grüße von Amélie
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Und ein Kommentar, wie nur du ihn schreiben kannst, liebe Amélie! Und vielleicht ist es lohnenswert, sich mit der eigenen Leere und Weite zu versöhnen versuchen, wer weiss. Die Krähen kommen ja sowieso, irgendwann…
Herzliche Grüsse zurück
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Eine Studie zum Mitleben.
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Vielen lieben Dank fürs Mitlesen und Mitleben!
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Gerne
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feine kleine studie zum thema zwei menschen rauchen gegenüber 🙂
lg vom finbar
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar! Herzliche Grüsse zurück…
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Wie der Ausschnitt aus einem Roman mit detaillierten Beschreibungen, vielleicht über eine Frau, die sowohl die Stadt als auch die Natur liebt, den Nachbarn eher nicht…meint Sonja
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Sehr schön, dass Sonja meint. Und gelesen hat. Vielen Dank!
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