Liebenswert.

Sie macht mit ihrem Fingernagel kleine Kreuze auf der Haut. Sie tut dies bisweilen, wenn sie von einer Mücke gestochen wurde. Ihre Mutter meinte einst, dies würde den Juckreiz stillen. Sie weiß nicht, ob es tatsächlich stimmt, womöglich überlagert der leichte Schmerz, den das Kreuz ausgelöst hat, den Juckreiz lediglich. Im Moment ist da kein Mückenstich auf ihrer Haut. Ihr fällt auf, dass sie schon lange keine Mücke mehr gesehen hat.

Er ist tot. Zunächst war er als vermisst gemeldet worden, dann suchte man nach ihm, gelangte an die Öffentlichkeit. Schließlich wurde eine Leiche gefunden. Er wurde identifiziert. Und jetzt ist sein Leben zu Ende, während alles übrige Leben weitergeht. Vielleicht ist Gewissheit der Ungewissheit vorzuziehen. Doch in der Ungewissheit wohnt zumindest noch Hoffnung. In der Gewissheit weicht sie einer lähmenden Ohnmacht und der unerträglichen Banalität der unveränderlichen Tatsache.

Sie zündet sich eine Zigarette an. Rauchen tötet, steht in großen schwarzen Buchstaben auf der Packung. Sie lächelt; es fühlt sich bitter an. Der Rauch löst sich in der Luft auf, verschwindet vor ihren Augen. Natürlich weiß sie, dass es nicht anders geht. Doch in diesem Moment kann sie diese Vergänglichkeit kaum aushalten.

Er hatte immer wieder über seine Depressionen gesprochen, sang über sie in seinen Liedern. In einem seiner Songs heißt es I think I’ll save suicide for another year. Er wollte sich den Suizid für ein anderes Jahr aufsparen. Dieses Jahr ist nun offenbar gekommen. Sie hört sich den Song an und versucht, nicht zu weinen. Es gelingt, doch als der letzte Ton verklungen ist, fühlt sie sich lächerlich deswegen und weiß nicht, warum sie die Tränen zurückhalten wollte.

Sie kannte ihn nicht, aber sie mochte ihn, wie man Menschen mag, in denen man Teile seiner selbst erkennt. Wenn sie seine Lieder hörte, schienen ihr die Räume weniger leer, sie fühlte sich weniger allein. Nicht jede Musik berührt im Innern, nicht jede Poesie erreicht das Herz. Doch wenn es geschieht, vermag es bisweilen das Gefüge zu verschieben.

Er hatte in einer letzten Botschaft im Internet davon geschrieben, dass man gut zu allen sein solle, die man liebt. Das sei keine Selbstverständlichkeit. Er habe nicht nach diesem Standard gelebt, und es bringe ihn um. Kurze Zeit später schrieb er seine letzten Worte. Ich bin jetzt weg. Danke. Dann war er weg.

Sie denkt daran, wie sie vor vielen Jahren einst auf einer Brücke stand und nach unten starrte. Es war später Abend, beinahe dunkel. Weit unter ihr rauschte ein kleiner Fluss, links und rechts rauschte der Wind in den Bäumen, in ihren Ohren rauschte das Blut. Immer wieder fuhren Autos hinter ihr vorbei. Irgendwann hielt eines an. Ein Mann stieg aus und kam langsam auf sie zu. Womöglich rettete er ihr in jenem Moment das Leben, doch sie mochte es nicht auf eine Konfrontation ankommen lassen und rannte in die entgegengesetzte Richtung von der Brücke und immer weiter bis nach Hause.

Er sei lustig gewesen, schreiben Menschen, die ihn gekannt haben. Liebenswert, warmherzig, freundlich, ein großer Künstler, ein guter Mensch. In ihrem Kopf nimmt sie das Wort Liebenswert in die Hände, dreht es zwischen den Fingern, zerlegt es und setzt es wieder zusammen. Sie denkt, dass er sich gerade in diesem Wort vielleicht nicht wiedererkannt hat.

Sie entdeckt eine Mücke an der Wand. Im ersten Moment möchte sie das Insekt totschlagen, doch dann hält sie inne. Die Mücke hebt ab und landet auf ihrem Arm. Während sie beobachtet, wie der kleine Rüssel in ihr Fleisch dringt, wagt sie kaum zu atmen. Irgendwann pustet sie die Mücke weg und wartet einige Sekunden. Dann macht sie mit ihrem Fingernagel ein kleines Kreuz auf der Haut.

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