Ein mittelgroßer Supermarkt hat das Haus, in dem sie aufwuchs, vollständig verschlungen; wo früher ihr Schlafzimmer war, sind heute die Konservendosen mit den winzigen Möhren und dem Mexiko-Mais-Mix und den Senfgurken und den kleinen Maiskolben, und während sie vor dem Regal steht und sich fragt, ob Mexiko-Mais-Mix in Mexiko auch Mexiko-Mais-Mix heißt, spürt sie einen Luftzug, als wäre hinter ihr jemand vorübergegangen, und sie schaut nach links und schaut nach rechts, aber da ist niemand zu sehen, sie steht alleine zwischen den Konservendosen, aus unsichtbaren Lautsprechern über ihrem Kopf erklingt eine Version des Songs If You Leave Me Now von Chicago, abenteuerlich interpretiert von einem virtuosen Panflötenspieler, und sie wundert sich über den Luftzug, über diese offensichtliche Täuschung, und als sie sich nach einem kurzen Schulterzucken wieder den Konservendosen im Regal zuwenden will, steigt ein eigenartiger Duft in ihre Nase, nicht unangenehm und sonderbar vertraut, wie ein alter Bekannter, und sie überlegt, woher sie den Duft kennt, woran er sie erinnert, an welchen Moment, an welche Person, und dann kommen die Wellen, die Bilder, die Erinnerungen; das Bett in ihrem früheren Schlafzimmer, ein Kleid, bedruckt mit dunkelbunten Blumen, eine kleine Narbe am Oberschenkel, rotblonde Locken, eine einzige Nacht, wie eine Episode aus einem anderen Leben, und eben dieser Duft, ein Damenparfum, aber ungewohnt herb und ohne die synthetische Süße anderer Düfte, und sie denkt daran, wie sie am Morgen danach, als die Tür ins Schloss gefallen war und sie wieder allein in ihrem Bett lag, ihren Kopf im Laken vergrub und die Duftresten einatmete, als wären sie lebensnotwendiger Sauerstoff, sie atmete die Fragmente der vergangenen Nacht ein, sie atmete die Bewegungen und Geräusche ein, die warme Haut, das Wispern und Flüstern, aber dann, im Lauf des Tages, im Lauf des Lebens, verschwand der Duft, entwich aus dem Laken, entwich aus ihrer Welt, und obwohl jene Nacht und alles, was sie am Morgen danach einatmete, in ihrer Erinnerung blieb, verlor sie den Duft, bis zum heutigen Tag, als er einige Momente lang zurückkehrt, und sie versucht, sich den Duft zu bewahren, ihn festzuhalten, doch er verflüchtigt sich erneut, verliert sich in der sterilen Luft des Supermarkts, und dann steht sie einfach da, mit hängenden Schultern, steht an jenem Ort, an welchem früher ihr Schlafzimmer war, und starrt auf die Konservendosen mit den winzigen Möhren und den Senfgurken und den kleinen Maiskolben, die Etiketten verschwimmen allmählich vor ihren Augen, bis sie einige Male heftig blinzelt und eine Dose Mexiko-Mais-Mix aus dem Regal nimmt.
Duftende Erinnerungen…
Supermarkt-überrollte Nostalgie…
Wundervolles Buchstabendorf…
Liebe Frühlingsgrüße vom Finbar
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Vielen lieben Dank dir für deinen Besuch im Erinnerungsdorf, lieber Finbar, und herzliche Grüsse zurück…
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Dort bin ich immer sehr gerne 🙂
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Ganz zauberhaft ❤
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Lieben Dank!
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eine heftige Erinnerung überschwemmt sie,
ein Duft, der ihre Sinne füllt,
eine Sehnsucht, die wieder da ist,
oh ja, die sie nie verlor, die nur eine gedankliche Verbindung brauchte,
um sie in ihre Arme zu schließen und dann die Enttäuschung, die Realität,
in der es diesen Duft schon so lange nicht mehr gibt…
Toll, Deine kleine Geschichte, lieber Disputnik. Ich kann mir gut vorstellen, was da passierte…
Es ist mir nicht fremd, es ist das Einatmen eines Wunsches, real nicht erklärbar, aber für die Fantasie gut denkbar.
Einen lieben Gruß von mir
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Ja, es ist wunderlich/verwunderlich, welche Gedanken und Erinnerungen gewisse Düfte auszulösen vermögen, nicht wahr? Vielen vielen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Worte. Und liebe Grüsse zurück…
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Sie lässt dich sogar Stoffe und haut fühlen.
Sie führt auf Pfade, da bist du erst mal alleine
bis einer kommt,der deine Fantasie mit dir teilt
LG von bruni
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Sehr sehr schön… Nochmals Vieldank und liebe Grüsse…
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