Man fährt beinahe täglich, mit dem Zug oder mit dem Auto, daran vorüber, an jenem verwitterten Schild, das den Weg durch den Wald zu einem Schloss weist. Das Schild hat Rost angesetzt, eine Ecke ist leicht abgeknickt. Das Schloss selbst steht in einer Waldlichtung auf einer kleinen Anhöhe. Im Sommer, wenn die Bäume ihr dichtes Blätterkleid tragen, ist es nicht zu sehen, weder von der Straße noch von den Bahngeleisen aus, die unmittelbar dem Wald entlang führen. Im Winter allerdings, wenn alle Äste und Zweige nackt und kahl sind, kann man es erkennen, das Schloss. Die alten Mauern ragen stumm und ernsthaft in die scheinbar unbelebte und unwirtliche Welt. Und wenn man sich hineindenkt in das Schloss, betritt man ein dunkles und garstiges Reich voller geheimnisvoller Undinge. Die steinernen Wände sind braun und dunkelgrün, die Feuchtigkeit hängt in allen Winkeln, manche Stellen sind übersät von undefinierbaren Flecken. Man denkt an abgemagerte Gestalten in vergitterten Verliesen, an krächzende Schreie, an geschändete Frauen, an verlorene Seelen. Ruchlose Geister treiben hier ihr Unwesen, fürchterliche Taten haben sich ereignet, und jede Ecke, jeder Raum erzählt davon.
Eines Tages wird man zu einem Seminar eingeladen. Als man erfährt, dass es in jenem Schloss stattfindet, ist man überrascht. Zunächst will man absagen, nimmt dann aber doch teil. Schon der Parkplatz vor dem schlichten Tor setzt der traumgleichen Vorstellung eine schmucklose Realität entgegen. Beim Betreten des Schlosses ist man verblüfft, dann seltsam entrüstet und schließlich ernüchtert. Nichts erinnert hier an finstere Zeiten. Alles wirkt sauber und rein und modern, folgt wahrscheinlich einem ausgereiften Raumkonzept, die Luft ist frisch, das Licht ist hell und klar. Und es sieht ja auch alles ganz hübsch aus, angenehm, komfortabel. Doch es hat nichts mit dem Schloss zu tun, auf welches das rostige Schild am Waldrand hinweist. Jenes Schloss ist verschwunden, ist untergegangen, verschüttet von der Zeit. Man hat es verloren. Und man muss einsehen, dass man es nie mehr zurückgewinnen kann.
Da malt die Fantasie immer wieder und wieder am Ausschmücken des Schloßinneren und eine profane Wirklichkeit holt Dich aus Deinem Kunstwerk heraus und setzt Dich unsanft auf dem Boden der Tatsachen ab…
Das ist bitter und muß erst mal verarbeitet werden.
LG von mir
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Ja, derartige Dinge sind mitunter ernüchternd. Auf der anderen Seite gibt es wohl auch Dinge, die in der Realität noch viel wunderbarer sind als in den schönsten Fantasien…
Liebe Grüsse und einen schönen Abend dir…
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Hat mich etwas an Erzählungen des Edgar Allan Poe erinnert…
Zu Beginn zumindest…
Feines Beschreiben, lieber Schreibfreund,
Liebe Frühlingsgrüße vom
Finbar
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Wahrscheinlich hätte sich der gute Herr Poe im hypermodernen Innern des Schlosses ebenfalls nicht sonderlich wohl gefühlt… Herzlichen Dank dir, lieber Finbar, und beste Frühlingsgrüsse zurück…
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Das ist anzunehmen, obwohl…
er war ja auch sehr zukunftsinteressiert…
Liebe Mittagsgrüßle
vom Finbar
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Im Vergleich zu geheimnisvollen alten Gemäuern wären ihm manche futuristischen Minimalismen aber vielleicht zu seelenlos. Oder so. Herzliche Abendgrüsse
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Vielleicht ist es ja noch immer da, das alte Schloss. Man kommt nur nicht über den Parkplatz dorthin, sondern über andere Wege. Wege, auf die kein Auto kommt – aber die Fantasie…
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Oh ja… Sind sehr schöne Wege, jene der Fantasie… Vielen Dank dir fürs Lesen und für die Worte…
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