Man erschafft sich seine eigene Landschaft. Seinen eigenen Hügel, den eigenen Buckel im Terrain. Und dann, beim Betrachten dieses Hügels, denkt man an die Beule, die man sich als kleines Kind zuzog, als man mit dem Dreirad durch die Wohnung raste und sich eine Schwelle in den Weg stellte, wodurch man an eine Ecke im Raumgefüge geschleudert wurde. Man denkt an den kleinen Ameisenhaufen im Wald am Rande der Siedlung, der bei genauem Hinschauen keinen Punkt aufwies, der sich nicht bewegte. Man denkt an die Brüste einer Frau, die man kaum kannte und deren Namen man vergaß, nicht jedoch die Brüste, die man nur einmal berührte, in einer lauen Sommernacht auf einem Zeltplatz im Tessin, während draußen vor den Blachen die Grillen und Grillenden sangen. Man denkt an die seltsame Erhebung auf dem Röntgenbild, das also das Innere des Kopfes eines Menschen zeigen sollte, den man liebte, seit man denken konnte und wahrscheinlich schon zuvor. Man erschafft sich seine eigene Landschaft. Seinen eigenen Berg, das eigene Felsmassiv. Und dann schweift der Blick, schweift über die Kanten und die Säume, in den Horizont gewebt, über die Flächen und Plateaus, die das Licht einfangen und variieren. Überhaupt das Licht, es malt unsichtbar, frei von Dogmen und Doktrinen, färbt das Land, schafft Wechselspielfelder. Man folgt den Linien, der Blick wird zum gewandten Wanderer, ein Nomade im Umland, und auf seinem Weg berührt er jeden Winkel des Sichtbaren, wie der leuchtende Balken im Kopierer. Alles wird registriert, alles wird erfasst, doch nur wenig bleibt fassbar, bleibt im Kontor des Geistes. Das Restliche verschwindet in den Ritzen der Zeit, verliert sich wie Holzspäne im Sägewerk, und weil niemand putzt im Unterbewusstsein, sammelt es sich an, wird zum Bodensatz des Daseins, durchsetzt von Erinnerungen und den Wurzeln des Charakters. Man erschafft sich seine eigene Landschaft. Seinen eigenen Fluss, den eigenen Strom der Erkenntnisse. Die Quelle markiert den Beginn, wenngleich nur ein oberflächlicher. Anfang und Ende sind Definitionssache, doch manchmal braucht es diese Festlegung, dieses strukturierte Gefüge, in das man sich fallen lassen kann, wenn der Halt entgleitet. Bäche sind gut. Bäche beginnen als kleines Rinnsal irgendwo hinter muhenden Kuhwiesen, werden allmählich grösser, bis die Dorfkinder das Wasser mit Steinen stauen. Ein höchst aufmerksamer Spaziergänger mit Golden Retriever oder Bernhardiner wittert eine gute Tat und reißt die Steine aus dem Bett, der Bach fließt weiter, reist durch weitere Dörfer mit weiteren Dorfkindern, irgendwann reichen die kleinen Steinstaumauern nicht mehr aus, der Bach wird zum Fluss und beeinflusst die Region, schärft ihre Identität. Der Bach ist seinen Anfängen entwachsen, ist mehr geworden, und das Meer ist in weiter Ferne. Das innere Auge folgt derweil dem Ich, dem Strich, der sich windet und wandelt, in die Breite und stetig nach vorne wächst. Man denkt daran, was fließt; das Blut in den Adern, der Samen zueinander, das Geld auf die Konten, die Tränen über die Wange, das Leben in die Welt und wieder hinaus. Alles fließt und schärft die Identität. Man entwächst seinen Anfängen, doch das Meer bleibt in weiter Ferne. Man erschafft sich seine eigene Landschaft. Seine eigenen Wiesen, die eigenen Felder. Und dann, jeder auf seine Weise, wird das Feld bestellt und bearbeitet, unverstellt erarbeitet. Die Landschaft, sie entsteht nicht erst in der Distanz, sondern genau dort, wo man steht. Zwischen den Halmen dringen die Finger in die Erde, in die Dinge der Zeit, die sich der Relativität erwehren und keiner Realität entbehren. Alles ist unmittelbar, jeder Klumpen auf der Haut erzeugt ein Gefühl. Die Landschaft ist hier, genau hier, und hier wird sie spürbar, wird zum lebendigen Etwas. Ein topografisches Wesen.
Dieser Text ist einer von drei Teilen eines Beitrages für die Ausstellung «Annäherung an deine Landschaft – Kollektive und individuelle Topografie» des Museums Zeughaus Teufen.