Siebzehn Streichhölzer hast du bereits entfacht, um die Kerzen auf dem Kuchen anzuzünden. Die verkohlten Reste legst du fein säuberlich in eine kleine Schale, deren einzige Funktion es ist, verkohlten Resten von Streichhölzern eine letzte Ruhestätte zu bieten, bevor sie im dunklen Abfalleimer verschwinden. Du denkst daran, dass eines Tages womöglich auch von dir nur noch verkohlte Resten übrig sein werden, dass auch du in die Dunkelheit entfliehen wirst. Der Gedanke lässt dich lächeln.
Endlich brennen alle Kerzen, und noch einmal zählst du nach, ob es wirklich deren siebzig sind. Bisher hattest du deinen Geburtstagskuchen immer selbst gebacken, doch nun können deine Hände keinen Teig mehr kneten, und du hast bedauerlicherweise die Hilfe eines Bäckers in Anspruch nehmen müssen. Dieser hat in einem Anflug von Selbstüberschätzung gemeint, dass sein Werk bestimmt in kürzester Zeit weggeputzt sein dürfte, so lecker sei es. Du hast nichts geantwortet.
Es ist schon viele Jahre her, dass du dir dumm vorgekommen bist, als du ganz alleine deinen Geburtstag zelebriert hast. Damals war es für dich ein Armutszeugnis, niemanden zu haben, der dir gratuliert, mit dem du anstossen kannst, der dir sogar Geschenke bringt. Aber allmählich hast du gelernt, dass es nicht zwingend schlecht ist, keine Gesellschaft zu haben, dass du so ein Maximum an persönlicher Freiheit erlangen und dich in einen Zustand versetzen kannst, der so rein ist wie das Wasser eines Bergbaches. Man kann sich allem anpassen, und du hast dich daran angepasst, dich niemandem anpassen zu müssen.
Nun bist du also siebzig Jahre alt, hast somit zehn Jahre Montage erlebt. Deine Frau starb an einem Montag, vor zehn Jahren. Ein witziger Zufall, findest du. Sie liegt noch immer neben dir auf der Couch, und eigentlich bist du dann ja nicht alleine. Doch eine tote Frau zählt nicht als Gesellschaft, auch wenn du noch immer mit ihr redest, sie in den Nächten zudeckst und von Zeit zu Zeit sogar wäscht. Den Gestank bringst du zwar nicht weg, aber es gibt dir ein gutes Gefühl, es zumindest zu versuchen. Du bedauerst, dass du nichts mehr fühlst, wenn du sie entkleidest, wenn sie nackt vor dir liegt. Und dass du zusammenzuckst, wenn du ihre immer schlaffer werdenden Brüste berührst. Doch das war früher schon so.
Du gibst dir grösste Mühe, ihre Schönheit zu bewahren. Nicht jene kaum vorhandene Schönheit, die ihr im Leben anhaftete, sondern jene Schönheit, die du erst kurz nach ihrem Tod bemerkt hast. Ruhe in Frieden, gibt man den Verstorbenen als Ratschlag mit, und tatsächlich fand sie ihren Frieden in der letzten Ruhe. Ihr Gesicht widerspiegelt die Unschuld eines Kindes, die Sanftmut eines streichelnden Windes, und du fragst dich immer wieder, warum sie erst hatte sterben müssen, um diesen Zustand zu erreichen. Aber vielleicht war es die einzige Möglichkeit.
Beim Atemholen rebelliert deine Lunge, und erst nach fünf Anläufen gelingt es dir endlich, alle siebzig Kerzen auszublasen. Es folgt ein Hustenanfall, der dich daran zweifeln lässt, dass du überhaupt noch einmal die Chance haben wirst, deinen Geburtstag zu feiern. Schnell leerst du eine beträchtliche Menge Rotwein in deinen Hals und wartest darauf, dass die gewünschte Wirkung einsetzt. Schliesslich beginnst du, mit unerschütterlicher Gemütsruhe die Kerzen vom Kuchen zu pflücken und auf ein ausgebreitetes Stück Zeitung zu legen, um sie nachher besser entsorgen zu können. Du zählst von siebzig rückwärts gegen null, und bei null stöhnst du auf.
Sie trägt ihr Hochzeitskleid, doch ihr knochiger Körper verliert sich darin. Du rückst es zurecht, streichst den Stoff glatt und lässt deine Finger über das Gesicht deiner Frau gleiten. Würde dich jemand fragen, ob du sie noch liebst, so würdest du wohl bejahen. Doch es fragt niemand. Früher, als sie noch lebte, haben sie es getan, manchmal, und du hast niemals Ja gesagt, sondern nur etwas von Gewohnheiten und fehlenden Alternativen gemurmelt und gemeint, dass es in eurer Ehe nicht unbedingt um Liebe gehe. Dir war der Begriff Liebe zu abstrakt, zu theoretisch. Erst jetzt kannst du dich damit anfreunden.
Du schneidest dir ein Stück Kuchen ab, legst es auf einen kleinen Teller und beginnst zu essen. Bissen um Bissen schiebst du in deinen Mund, mit einer mechanischen Präzision, die dir zwar widerstrebt, die du aber nicht lassen kannst. Seit zehn Jahren ist es dir unangenehm, im Beisein deiner Frau zu essen. Einerseits fühlst du dich beobachtet, andererseits ärgerst du dich, weil sie nicht daran teilhaben kann. Manchmal legst du dann eine Decke über ihren Körper, doch es hilft nicht wirklich.
Nach ihrem Tod hast du dir vorerst nichts anmerken lassen. Als jedoch die Fragen kamen, hörtest du auf, dich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Du wolltest nicht erklären, wo deine Frau sei, mochtest keine Lügen mehr erzählen, wenn Freunde sie am Telefon verlangten. Nur vor deiner Tochter liess es sich nicht geheim halten, doch sie wohnt im Ausland und konnte nicht an die Beerdigung kommen, von der du ihr erzählt hast, die es aber nie gegeben hat. Manchmal ruft sie an, und jedes Mal musst du dich beherrschen, um im Präsens nicht über euch, also deine Frau und dich, sondern einzig über dich zu reden.
Den leeren Teller bringst du in die Küche, stellst ihn ins Spülbecken. Darüber ist ein Gewürzregal befestigt, auf welchem immer noch das Tablettenfläschchen steht. So wie heute geschieht es jetzt häufiger, dass du danach greifst, den Deckel öffnest und einige Tabletten in deine Handfläche kullern lässt. Du fragst dich, ob sie noch immer die gleiche Wirkung haben wie an jenem Montag vor zehn Jahren. Ein wehmütiges Lächeln umspielt deine Lippen. Dein Kopf zittert ein wenig, als du das Fläschchen wieder ins Regal stellst.
Du legst dich neben deine Frau, nimmst ihre Hand, streichelst ihre Haut. Sie friert, wie immer, und du ziehst die Wolldecke bis zum Kinn. Dann küsst du sie auf die Wange und schliesst deine Augen. Deine Frau lächelt.
Vielleicht….vielleicht wirst Du, wenn die Zeit gekommen ist….das Fläschchen mit den Tabletten nehmen und selber ausprobieren ob sie noch die selbe Wirkung haben wie vor Jahren….
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Vielleicht… Die Zeit darf sich aber ruhig noch ein wenig Zeit lassen…
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Der Kommie war an den alten Herren gerichtet… 😉
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