Es beginnt mit einem Tropfen, wie jede Sturmflut, jeder Wolkenbruch, jede Überschwemmung mit einem Tropfen beginnt. Auf den ersten Tropfen folgen weitere Tropfen, und mögen einzelne Steine zu Beginn noch heiß und trocken bleiben, werden sie zunehmend abgekühlt und überschwemmt. Die Flüssigkeit dehnt sich aus nach allen Seiten, erobert neue Gebiete, überschreitet jede Grenze, nimmt alles ein.
Wir bluten aus.
Es müsste nicht sein. Es läge in unserer Macht, die Entwicklungen zu stoppen, sie zumindest einzudämmen. Wir hätten die Mittel und die Möglichkeiten, wir hätten das Wissen und die Erfahrung, wir wären befähigt und berechtigt. Wir wüssten um die Notwendigkeit, wären uns dem Drängen der Zeit bewusst. Aber. Da ist immer ein Aber. Jeder Schritt bleibt bloße Theorie. Jede mögliche Veränderung verkümmert im Konjunktiv.
Wir bluten aus.
Es beginnt mit einem Tropfen, auf dem Parkettboden vielleicht, auf der weißen Oberfläche der Duschwanne, auf Asphalt, auf dem Handrücken. Ein roter Punkt, klein und klar. Wir sehen ihn und sagen: Oh, das ist nicht gut. Der Punkt wächst, wird zum Fleck. Wir sehen ihn und sagen: Da müssen wir etwas tun. Der Fleck wächst, wird zur Fläche. Wir sehen sie und sagen: Da müssen wir etwas ändern. Die Fläche wächst. Und wächst. Und uns fehlen die Worte.
Wir bluten aus.
Es ist schmerzhaft, aber nicht schmerzhaft genug, um zu weinen. Es ist frustrierend, aber nicht frustrierend genug, um zu kämpfen. Es ist bedrohlich, aber nicht bedrohlich genug, um sich zu wehren. Wir diskutieren und verhandeln, wir zucken mit Schultern und verwerfen Hände, wir brüllen und zetern, doch wir hören nicht hin, wir hören nicht zu, und irgendwann hören wir auf.
Wir bluten aus.
Es beginnt mit einem Tropfen, einem weiteren Tropfen, einem weiteren Tropfen, und jeder Tropfen trägt zum Ganzen bei. Jeder Tropfen verändert das Gefüge. Jeder Tropfen ist ein schleichendes Gift. Jeder Tropfen raubt uns Mut und Kraft. Vielleicht hoffen wir, dass das Ausbluten irgendwann aufhört. Vielleicht hoffen wir auf ein Wunder. Vielleicht hoffen wir auf Deus ex machina. Bis der Tropfen kommt, der auch diese Hoffnungen fortschwemmt.
Ende.
