Wenn sie auf ihre nackten Füße schaut, sieht sie, was die meisten Menschen sehen, wenn sie auf ihre nackten Füße schauen. Zehn Zehen, zwei Mittelfüße, darüber zwei Schienbeine, überhaupt zwei Beine. Sie ist eine Zweibeinerin, und beide Beine funktionieren wie vorgesehen. Sie steht auf diesen beiden Beinen auf dem Boden. So kennt sie ihr Leben. Sie steht mit beiden Beinen im Leben, wie man sagt. Doch man sagt das so, wenn man verdeutlichen will, dass jemand in der Realität verankert ist, gefestigt ist. Sie ist nicht sicher, wie sehr dies auf sie zutrifft. Was sie weiß: Sie gibt sich keinen Illusionen hin. Sie lebt auf dem Boden der Tatsachen. Was sie ebenfalls weiß: Im Boden ist ein Loch.
Es ist kein riesiges Loch, aber groß genug, um hineinzufallen. Wenn sie wüsste, wo es sich genau befindet, könnte sie einen Bogen um das Loch machen, könnte ihm aus dem Weg gehen, doch das Loch im Boden hat keinen festen Platz. Häufig ist es nicht zu sehen, ist vermeintlich inexistent, und es kann sogar passieren, dass sie es vergisst oder weit genug aus ihrem Bewusstsein drängt, doch plötzlich ist es da, unmissverständlich, unerbittlich. Ihr ist klar, dass das Loch jederzeit und überall auftauchen kann, aber den Zeitpunkt und den Ort kennt sie nicht. Sie kennt nur den Boden der Tatsachen. Und in diesem Boden ist ein Loch.
Als sie zum ersten Mal hineinfiel, war sie so erschüttert und gelähmt, dass es ihr lange Zeit nicht gelang, aus dem Loch hinauszuklettern. Es war dunkel und feucht dort unten, die Luft modrig und kalt. Der Schmutz sammelte sich unter den Fingernägeln, in ihrem Hals hatte sich ein Klumpen verkeilt. Ihre Füße fanden kaum Halt, und auf jeden Schritt, der sie ein Stück nach oben brachte, folgte unweigerlich das nächste Abrutschen. An jenem Tag, an dem sie endlich wieder an die Oberfläche gelangte und den ersehnten festen Boden unter den Füßen spürte, schien die Sonne so hell, dass die Augen schmerzten.
Das erste Mal war nicht das letzte Mal. Sie glaubt nicht, dass das letzte Mal bereits hinter ihr liegt. Wenn sie auf ihre nackten Füße schaut, die über den Boden gehen, ist ihr bewusst, dass sie eben diesen Boden unter eben diesen Füßen so genau kennen kann, wie es nur möglich ist, und sich dennoch nichts an der Tatsache ändert: Im Boden ist ein Loch. Irgendwo.
Dass sie mit dem Hineinfallen mittlerweile besser umzugehen vermag, ist ein Trost. Und manchmal denkt sie, dass dies alles ist, was sie anstreben kann. Sich damit abzufinden, dass da ein Loch im Boden ist, es zu akzeptieren, es zu dulden, es als Teil des Gefüges anzuerkennen. Es nicht zu verleugnen. Denn ein Verleugnen würde das Loch nur gefährlicher machen, grösser, tiefer.
Wenn sie auf ihre nackten Füße schaut, die über den Boden gehen, sieht sie, was die meisten Menschen sehen, wenn sie auf ihre nackten Füße schauen, die über den Boden gehen. Es ist der Boden der Tatsachen. Jeder Mensch hat seine eigenen Tatsachen. Jeder Mensch hat seinen eigenen Boden. Ihre eigene Tatsache ist diese: In ihrem Boden ist ein Loch.
