Er war ein guter Mann. Aufrecht, rechtschaffen, redlich; solche Adjektive entsprachen ihm, auch wenn er abgewehrt hätte, denn bescheiden war er auch. Sein Leben lang hatte er als Lastwagenfahrer gearbeitet, war loyal und verlässlich gewesen, hatte seine Arbeit mit Stolz und Enthusiasmus verrichtet, auch wenn sie seine Gesundheit ruiniert hatte. Sein Rücken war so ausgeleiert und morsch, dass er wohl am liebsten nur noch resigniert mit den Schultern gezuckt hätte, doch sein Rücken war so ausgeleiert und morsch, dass er nicht mehr mit den Schultern zucken konnte, ohne Schmerzen zu leiden, also ließ er das Schulterzucken bleiben und schaute lediglich traurig. Überhaupt schaute er häufig traurig, sogar wenn er lachte, und er lachte ziemlich oft. Manchmal lachte er so heftig, dass die traurigen Augen gar nicht mehr zu sehen waren. Mit ihm konnte man eine gute Zeit haben, um es banal zu formulieren. Obwohl in dieser guten Zeit nichts Banales lag.
Seine Frau und seine Tochter nannte er seine beiden Weiber, und wer ihm dabei zuschaute, wie er sie ansah, wenn er sie so nannte, wusste genau, dass er meilenweit davon entfernt war, dies despektierlich zu meinen. Noch mehr als Traurigkeit lag Liebe in seinen Augen, und sie zeigte sich vor allem dann, wenn er von seinen beiden Weibern sprach. Laut ausgesprochen hätte er diese Liebe nicht, zumindest nicht vor anderen Leuten. Dies lag vielleicht an der Generation, der er angehörte. Vielleicht lag es an seiner Erziehung, an seinen Erfahrungen, an seinen Überzeugungen, die er sich während Jahrzehnten angeeignet oder angewöhnt hatte. Man hätte ihn danach fragen können, doch man hätte wahrscheinlich keine Antworten erhalten. Und nun kann man nicht einmal mehr fragen.
Ein kaputter Rücken bringt einen guten Mann nicht ins Grab. Krebs schon.
Jetzt, wo er selbst nicht mehr traurig schauen und dabei lachen kann, versuchen alle anderen, zu lachen, während sie traurig schauen. Es gelingt längst nicht allen. Der Tag der Abdankung ist warm und sonnig. Schauplatz ist eine weite Waldlichtung auf einer Anhöhe, in deren Mitte einige Gebäude hingestreut daliegen, eines davon ein Restaurant, ein anderes ein Stall. Es ist ein wunderbar entrückter Ort, losgelöst von jeglicher Hektik. Die Stimmung oszilliert zwischen tiefer Traurigkeit und leichtfüssiger Dankbarkeit, etwas, das sich vornehmlich dann einstellt, wenn die Person, von der man Abschied nimmt, Menschen zu berühren wusste und tiefe Spuren in ihrem Leben hinterlassen hat.
Nach einem kurzen Umtrunk begibt man sich mit betont langsamen Schritten zu einem freistehenden Baum, unter dem die Abdankungszeremonie stattfinden soll. Seine beiden Weiber gehen voran, und von hinten merkt man gar nicht, dass sie weinen. Bevor der Seelsorger seine Worte spricht, fordert er alle Anwesenden zu einem Moment des Innehaltens auf, der von Musik begleitet werden soll. Es ist eines der Lieblingslieder des Verstorbenen, was durchaus passend ist, zudem hat er es selbst ausgewählt. Die meisten Gäste stehen in stiller Besinnlichkeit und mit gesenkten Köpfen unter dem Baum, doch einige müssen nach den ersten Takten unweigerlich grinsen. Denn zu hören ist der Song «You Can Leave Your Hat On» in der Version von Joe Cocker – das wahrscheinlich bekannteste Lied für einen Striptease. Was nicht nur am Rhythmus und der Melodie liegt, sondern auch am Songtext, in dem der Sänger seine Geliebte auffordert, sich sämtlicher Kleider zu entledigen – nur den Hut könne sie auflassen.
Jene, die grinsen, schauen sich vorsichtig um; ihre Reaktion scheint ihnen offenbar fehl am Platz. Doch eigentlich ist das Grinsen ebenso angebracht wie die Songauswahl. Ein guter Mann, der das Leben wirklich lebt und liebt, sollte sich vielleicht genau mit einem solchen Lied davon verabschieden.
