Andi war ein bisschen dicker als die anderen Kinder, sein Mittelscheitel war ein bisschen zu akkurat, seine Stimme war ein bisschen höher, seine Hosen waren stets ein bisschen zu klein und die Schuhe ein bisschen zu groß. Andi war einfach ein bisschen anders als der Rest, doch dieses Bisschen reichte, um regelmäßig gehänselt, ausgelacht, ignoriert, geschlagen oder anderweitig drangsaliert zu werden, nicht selten mehr als nur ein bisschen.
Es war nicht einfach, Andi zu sein. Zwar waren es nur wenige Mitschüler, die tatsächlich auf ihn losgingen, doch die übrigen Kinder schauten entweder tatenlos zu oder demonstrativ weg, legten die Hände in den Schoss oder zuckten mit den Schultern. Einmal, an einem besonders kalten Wintertag, liefen zwei Jungen auf dem Schulweg zu Andi hin und schubsten ihn lachend um, rissen ihm die dicke neue Wollmütze vom Kopf und warfen sie in den nahen Bach. Andi lag weinend im Schnee, während die Wollmütze langsam wegtrieb. Die anderen Kinder hätten die Mütze aus dem Bach fischen können, sie hätten Andi trösten oder ihm zumindest auf die Beine helfen können, doch sie taten nichts dergleichen. Sie gingen einfach weiter, die Mütze verschwand aus dem Blickfeld und Andi blieb im Schnee liegen.
Früher oder später muss Andi aufgestanden und nach Hause gegangen sein, denn am nächsten Tag kam er wieder zur Schule, der Mittelscheitel ein bisschen zu akkurat, die Hose ein bisschen zu klein. Obwohl es noch kälter war als am Tag zuvor, trug Andi keine Mütze.
So wie die Wollmütze an jenem Wintertag verschwand auch Andi irgendwann aus dem Blickfeld, trieb weg und verlor sich hinter den Mauern, die das Hier und Jetzt begrenzen. Wenn man Andis Namen heute ins Suchfeld bei Google eintippt, findet man ihn aber ziemlich schnell. Andi hat ein eigenes kleines Geschäft im Bereich Marketing, das er offenbar mit seiner Partnerin führt. Auf der Website ist ein Bild von ihm. Er trägt keinen Mittelscheitel mehr, sondern eine schicke Frisur und einen Drei-Tage-Bart. Die Schuhe sieht man nicht, aber die Hose passt. Andi sieht gut aus. Vor allem sieht er glücklich aus, sein Lächeln füllt das gesamte Gesicht. Gut gemacht, Andi.

Wenn wir ehrlich sind, kennt jeder so einen Andi. Ich könnte locker drei davon nennen.
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Gibt wohl einige davon, ja… Lieben Dank dir fürs Lesen!
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Es ist so schön, dass dieser Junge nicht an dem Mobbing seiner Mitschüler kaputt gegangen ist, sondern sich irgendwann auf seine Werte besonnen hat und zur Unterstützung noch eine Partnerin gefunden hat. – Das baut auf!
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Ja, tut es, und vielleicht hat er ja im Lauf der Jahre ein paar mutigere Menschen an seiner Seite haben dürfen als damals im Schnee… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Danke für das Ende.
Gruß Andi aka Reiner 😉
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🙂
Danke dir fürs Lesen! Und herzliche Grüsse zurück…
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