In einer Kurzgeschichte erzählt Judith Hermann davon, wie ihre Eltern – oder die Eltern ihres literarischen Ichs – zu reisen begannen, nachdem die Kinder erwachsen geworden waren. Sie reisten nach Griechenland, nach Frankreich, nach Italien, waren oft wochenlang unterwegs. In der Geschichte geht es vornehmlich darum, wie die Eltern von Judith Hermann nach Venedig gereist waren und sich dort mit Judith Hermann treffen wollten. Als Judith auf ihrem Balkon sitzt und liest, wie Judith Hermann von den reisenden Eltern und von Venedig schreibt, ist sie irritiert. Judith heißt nicht Hermann wie ihre Vornamensvetterin. Judith heißt ganz anders, und sie ist froh, dass sie nicht Hermann heißt, denn auch wenn ein «r» fehlt, ist da zu viel Männliches in jenem Nachnamen, ein Herr und ein Mann, und Judith sieht zwei Männer vor sich, einer ist elegant gekleidet und sauber rasiert und schaut arrogant in die Welt, der andere trägt ein schmutziges Unterhemd, einen kleinen Bierbauch und einen ungepflegten Bart, und beide Männer sind ihr zuwider, doch vielleicht ist sie diesbezüglich auch ein wenig empfindlich.
Judith schiebt die beiden Männer weg und reist in Gedanken mit Judith Hermann und deren literarischen Eltern nach Venedig, und erneut ist da diese Irritation. In der Geschichte reden sie über die Stadt, über Kultur, über die Gastronomie, und das literarische Ich von Judith Hermann sinniert darüber, wie es sich anfühlt, mit den Eltern in Venedig zu sein. Doch wenn Judith sich vorstellt, wie es wäre, mit ihren Eltern in Venedig zu sein, greift in ihr eine träge Leere um sich. Sie hat keine Ahnung, was man mit Eltern in Venedig tun soll. Und sie hat keine Ahnung, worüber man mit Eltern in Venedig reden soll.
Judiths Eltern reisen nicht, sind nie sonderlich gern gereist, in den Sommerferien fuhr man manchmal für eine Woche ans Meer, wohnte in einem mittelprächtigen Hotel an einem mittelprächtigen Strand, aß mittelprächtiges Essen und führte mittelprächtige Gespräche. Noch nie waren Judiths Eltern in Venedig, auch Judith selbst war noch nie in Venedig. Judiths Bruder war einmal in Venedig, doch er war wenig begeistert. Judiths Bruder fährt lieber nach Ibiza. Was er dort so unternehme, hatte Judith ihn einmal gefragt. Party machen, hatte er geantwortet. Judith hatte mit den Schultern gezuckt. Sie weiß noch immer nicht, wie man Party macht.
In der Geschichte von Judith Hermann passiert nicht sonderlich viel, umso mehr sind es Stimmungen, die sich Raum greifen. Die Eltern treffen sich mit ihrer Tochter, man redet, es kommt zu schönen und unschönen Begegnungen mit anderen Menschen. Da ist eine merkliche Distanz zwischen den beiden Generationen, und gleichwohl findet die Protagonistin in der fremden Stadt ein wenig Trost in der Anwesenheit der ihr vertrauten Eltern. Ein Zwischenfall raubt ihr die Sicherheit, doch das Dasein der Eltern vermittelt eine abstrakte Art von Geborgenheit.
Judith klappt das Buch zu, legt es auf den kleinen Tisch auf dem Balkon und ist einen Moment lang versucht, ihre Eltern anzurufen, vornehmlich ihre Mutter, denn ihr Vater nimmt nie das Telefon ab, es sei denn, die Mutter ist gerade unter der Dusche oder auf der Toilette. Doch der Moment geht vorüber, das Telefonat findet nicht statt, und dennoch weiß Judith genau, wie es verlaufen wäre. Es sind die immergleichen Fragen, die immergleichen Antworten, die immergleichen Themen, die immergleichen Floskeln. Es sind die immergleichen Stimmlagen, die immergleichen Atemzüge, die immergleichen Pausen, die immergleichen Muster. Judith denkt, dass im Immergleichen eigentlich etwas Vertrautes liegen müsste, etwas Verbindendes, doch sie kann nichts dergleichen erkennen. Das Immergleiche ist eine unzureichende Inszenierung, eine routinierte Simulation. Das Immergleiche ist ein Automatismus, der verhüllen soll, was fehlt.
In der Kurzgeschichte ist Judith Hermann offensichtlich erleichtert, dass die Eltern unversehrt aus Venedig zurückgekehrt sind, dass ihnen nichts zugestoßen ist. Die Tochter sorgt sich um Mutter und Vater, wie sich Mutter und Vater um die Tochter sorgen; ein Gleichgewicht, vollkommen natürlich. Judith denkt noch einmal daran, ihre Eltern anzurufen, sie nimmt das Telefon zur Hand. Sie könnte ihnen vorschlagen, gemeinsam zu verreisen, nach Venedig oder irgendwo hin, irgendwann. Man könnte miteinander reden, miteinander schweigen, miteinander Zeit verbringen. Das wäre doch ganz schön, und es wäre doch ganz einfach. Doch Judith hat keine Ahnung, was man mit Eltern in Venedig tun soll. Und sie hat keine Ahnung, worüber man mit Eltern in Venedig reden soll. Also legt sie das Telefon wieder weg, räuspert sich und blickt auf das Buch auf dem Tisch.
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Ein nicht ungeschicktes Spiel mit der Hermannschen Vorlage! Und kurz auch lüftet sich der dicke Vorhang des „Immergleichen“ im Geschriebenen, gleichwohl er von Judith bald wieder zurückgeschlagen wird.
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Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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…und dann passiert es doch: das Immergleiche, dieser Trügerische Anschein einer Geborgenheit, Sicherheit oder Beständigkeit bricht erst an einer Seite zur Hälfte weg und danach zur anderen. Gut, wer da auf Erinnerungen mit Eltern zurück blicken kann, die nicht seit Ewigkeiten auf ihren Moderatelzen im Kanal stehen. Es müsste mit Eltern nicht unbedingt gleich Venedig sein. Aber Venedig wäre immer jede Reise wert. Und sei es, um sich prächtige Eltern und ihre Reise dorthin auszudenken.
Sehr sehr gerne wieder etwas von Dir gelesen.
Liebe Grüße
Amélie
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…und sehr sehr gerne wieder Worte von dir in den Kommentaren auftauchen gesehen! Vielen lieben Dank dir! Und ich hoffe, deine Erinnerungen sind mindestens so prächtig wie Venedig… Herzliche Grüsse…
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P.S. Meine Erinnerungen sind prächtiger als Venedig je sein könnte. Manche davon sind mit Eltern in Urlauben, nicht Venedig – doch Venedig ist eher für Verliebte. Eltern beduchten viel zu spät Guernsey. Whiskey in egg pots, schrieb mir Mam. Sie schickte Carnations, sie kamen in einem langen Pappkarton, den ich mit meiner Großmutter andächtig öffnete. Darin lagen die carnations. Große duftende Blüten. Nelken mochte Opa am liebsten, schwärmte Oma. Und ich sah Mam, Hand in Hand mit Papa auf Guernsey in den Tamariskenalleen wandern und abends im Pub sitzen. Du fragtest nach einer prächtigen Erinnerung. Diese duftet nach Nelken aus Guernsey.
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Eine wahrhaftig prächtige und prächtig duftende Erinnerung, so lebendig und echt… Vielen Dank dir fürs Teilen!
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