«Verflucht», flucht die innere Stimme, «verdammt noch mal!»
Eigentlich ist man gar nicht sonderlich verschwenderisch im Umgang mit Kraftausdrücken, in der gegenwärtigen Ausnahmesituation ist Zurückhaltung jedoch fehl am Platz. «Verflucht! Verdammt noch mal! Man will doch nur schlafen!» Aber das Einschlafen, es will nicht funktionieren, und Dinge, die nicht funktionieren, bergen ein beträchtliches Frustpotenzial. Wenn man beispielsweise im Auto eine Sitzheizung hat und diese Sitzheizung nicht funktioniert, ist das deutlich schlimmer, als wenn man gar keine Sitzheizung hat. Das ist wissenschaftlich belegt, zumindest behauptet man dies hier und jetzt, und die Tatsache, dass man diese wissenschaftliche Belegbarkeit erlogen hat, bedeutet nicht, dass die Sache mit der nicht funktionierenden Sitzheizung nicht stimmt. Die Frustration, sie ist schließlich real, ist spürbar, sowohl dann, wenn man im Winter im Auto sitzt und die ausbleibende Wärmeentwicklung unter dem Hinterteil registriert, als auch in der erwähnten gegenwärtigen Ausnahmesituation des temporär inexistenten Einschlafens.
«Man will doch nur schlafen! Das sollte doch im Bereich des Möglichen liegen! Das ist doch nicht zu viel verlangt!» Doch mit derartigen Argumentationen lässt sich der ersehnte Schlaf nicht herbeidiskutieren, und die geballte Faust oder die zusammengepressten Zähne vermögen die missliche Lage auch nicht zu begünstigen.
Mit jeder Minute, die man schlaflos auf der Matratze liegt, wird deutlicher, dass eine Lösung dringend erforderlich ist. Man erinnert sich, dass man als Kind den Ratschlag bekam, Schafe zu zählen, um besser einschlafen zu können. Es hat damals nicht funktioniert, also dürfte man auch heute damit scheitern, doch man bedenkt die Möglichkeit, dass damals die Zeit noch nicht reif war für die Schafe, sie es aber mittlerweile ist. Also will man es versuchen. Will Schafe zählen.
Im Kopfkino sieht man sich selbst, wie man an einem Zaun steht; eine Hand liegt auf einer Holzplanke, während unter den Füssen das Gras lautlos nach oben wächst. Man wartet auf die Schafe, doch die Schafe lassen sich Zeit, nur eine nervöse Fliege ist zugegen und zerrt mit ihren hektischen Bewegungen am Nervenkostüm. «Verflucht», flucht die innere Stimme im Kopfkino, «verdammt noch mal, wo bleiben die Schafe?» Man sieht sich um, lässt den Blick über die Wiese schweifen, bis zu den fernen Waldrändern. Man will bereits aufgeben und die pittoreske Landschaft wieder verlassen, als man eine Bewegung registriert. Tatsächlich nähern sich einige weiße Flecken, werden langsam grösser, werden immer mehr. Träge schleichen sich die weißen Flecken an und erst, als sie nur noch einige Meter entfernt sind, entpuppen sie sich als Schafe.
«Endlich!» stößt man hervor und weist die Schafe mit unbeherrschtem Gestikulieren darauf hin, dass sie nun über den Zaun zu springen hätten. Das höchste und breiteste Schaf tritt an den Zaun heran, schnüffelt kurz am Holz und schüttelt dann vehement den Kopf. Das Schaf räuspert sich. «Ich spreche für alle Schafe hinter mir, wenn ich sage, dass wir kein Interesse daran haben, über diesen Zaun zu springen.»
Man ist durchaus erstaunt, dass dieses außergewöhnlich hohe und breite Schaf in der Lage ist, einen Gedanken in verständliche Worte zu fassen. Und man würde diesem Erstaunen auch gerne Ausdruck verleihen, doch noch grösser als das Erstaunen ist die Irritation, dass die Schafe ihre Aufgabe nicht ordnungsgemäß erledigen wollen.
«Was soll das heißen, dass ihr kein Interesse habt?» fragt man entnervt. «Es ist eure Pflicht, über diesen Zaun zu springen.»
«Unsere Pflicht?» entgegnet das große Schaf. «Sagt wer? Du? Du hast uns gar nichts zu sagen.»
Man ist entrüstet ob der unerwarteten Widerworte und sucht händeringend nach einer schlagkräftigen Replik, bringt aber nur ein dümmliches «Hä?» zustande.
«Du hast uns gar nichts zu sagen», wiederholt das Schaf.
«Ach ja?» sagt man laut. «Aber ihr seid in meinem Kopf, und in meinem Kopf bestimme ich, was passiert und wer was tut.»
«Wir sind vielleicht in deinem Kopf. Aber du bist auf unserer Wiese. Und auf unserer Wiese bestimmen wir, was passiert und wer was tut.»
«Ihr seid Schafe. Euch kann keine Wiese gehören.» Man lässt ein gewinnendes Lächeln folgen, das jedoch jäh verendet.
«Noch so eine irre Behauptung», gibt das Schaf zurück. «Willst du etwa sagen, dass es deine Wiese ist?»
«Nein», gibt man nach kurzer Bedenkzeit zurück. «Es ist nicht meine Wiese. Aber mein Kopf. Oder willst du sagen, dass mein Kopf euch gehört?»
«Nein, das habe ich nicht behauptet», erklärt das Schaf. «Aber diese Wiese gehört uns. Sie ist unsere Heimat.»
«Heimat», schnaubt man verächtlich. «Schafe brauchen keine Heimat. Schafe werden zu Pullovern und Käse und Schmorbraten.»
«Ach ja, die vermeintliche Überlegenheit der menschlichen Spezies», brummt das Schaf. «Ihr seid ja so toll. So intelligent. So weise. Doch am Schluss werdet ihr einfach von Würmern gefressen. Ihr alle.»
«Ich nicht», wirft man ein. «Ich bevorzuge die Kremation.»
«Das ist kaum von Belang. Es ändert nichts an der Tatsache, dass nichts von dir übrigbleibt.»
«Von dir ja auch nicht», erwidert man und versucht es nochmals mit dem gewinnenden Lächeln, muss es aber erneut sterben lassen.
«Natürlich bleibt von mir etwas übrig», sagt das Schaf triumphierend. «Du hast es ja selbst gesagt. Ein Pullover, mindestens. Vielleicht auch zwei oder drei, dazu ein Schal, oder warme Socken.»
«Davon hast du ja nichts. Es ist ein Mensch, der den Pullover trägt.»
«Das stimmt. Aber das zeigt ja auch, wie selbstlos wir Schafe sind. Wir geben Haut und Haar, damit ihr’s schön warm habt. Als Dank tötet ihr uns und fresst uns auf. In moralischer Hinsicht haben wir Schafe also absolut die Oberhand.»
Man stammelt einige Wortfetzen, lässt dann aber unvermittelt die Schultern fallen. «Ja, du hast recht. Und weißt du was? Es tut mir leid. Es war nicht meine Idee. Und überhaupt mag ich Schaffleisch gar nicht, und Wollsocken sind mir unangenehm.»
«Das soll mir ein Trost sein?»
«Nein, kein Trost. Ich wollte nur erklären, dass ich nichts gegen dich und deine Freunde habe und euch nicht nach dem Leben trachte.»
«Aber du erwartest von uns, dass wir über den Zaun springen.»
«Ähm…»
«Weil du nicht einschlafen kannst.»
«Nun ja…»
«Wir sollen springen, damit du schlafen kannst.»
«Auch das war nicht meine Idee. Das wurde mir eingetrichtert, als ich ein Kind war.»
«Du wurdest also so konditioniert? Und es ist dir bis heute nicht gelungen, dich dagegen aufzulehnen? Hast du keine eigene Meinung? Du machst einfach das, was man dir sagt? Diese Taktik funktioniert bei euch Menschen ja tadellos, nicht wahr? Man muss gar nicht von Hitler reden. Es gibt tausend Beispiele. Ihr seid so stolz auf euren freien Willen, aber meistens verzichtet ihr darauf, ihn tatsächlich auszuüben. Ihr trottet einfach mit der Herde mit. Und dann habt ihr sogar die Frechheit, uns Schafe als Sinnbilder für eure tumbe Mitläufermentalität heranzuziehen.»
«Ich…», stammelt man und schluckt leer. «Mir wird das Ganze etwas zu philosophisch. Und ich bin zu müde, um mich zu rechtfertigen.»
«Du bist müde?»
«Ja, ich bin müde.»
«Dann schlaf doch einfach.»
«Ja, ist gut.» Es ist ein unangenehmes Gefühl, kleiner zu werden.
«Wir bleiben noch ein wenig auf der Wiese und grasen. Falls du doch noch Lust hast, mit mir zu diskutieren, darfst du gerne rufen.»
Man nickt kurz und wendet sich ab. Geht langsam davon, über einen staubigen Feldweg. Links und rechts liegen Wiesen in der Landschaft. Vielleicht sind da weitere Schafe, und womöglich mangelt es diesen anderen Schafen an rhetorischem Geschick, doch man mag nicht mehr diskutieren. Man ist tatsächlich müde. Vielleicht reicht es, einfach auf den Feldweg zu starren und weiterzugehen. Immer weiter. Einfach gehen und starren. Ohne nachzudenken. Einfach weitergehen. Immer weiter. Und weiter. Und…

Da will man doch nur ein wenig ruhen und schon hat man eine Grundsatzdiskussion an der Backe. Sehr schön.
LikeLike
Geht doch, ganz ohne Umhergespringe, wenn auch mit ermüdenden Argumentationen. Ziel erreicht 🙂👍
Liebe Grüße, Reiner 👋
LikeGefällt 1 Person
Ja, geht doch… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
LikeGefällt 1 Person
Wie schön … 😊
Bei dieser Hitze schlafen zu können ist tatsächlich nicht einfach, lieber Disputnik. Also hilft ein philosophisches Gespräch mit Schafen … herrlicher Gedanke, danke dafür!
Herzliche Grüße vom Finbar
LikeGefällt 1 Person
Man kann nie genug philosophische Gespräche mit Schafen führen, lieber Finbar (ausser man ist müde…)
Vielen Dank dir fürs Lesen und herzliche Grüsse zurück
LikeGefällt 1 Person
Lächel … wenn du meinst, lieber Disputnik *gg*
Have a pleasant day,
Finbar
LikeGefällt 1 Person