Er ist ein alter Mann, der Rücken ist längst krumm vom Gewicht der vielen Jahrzehnte, der Kopf ist tief zwischen die Schultern gerutscht. Wenn er jemanden grüßt, heben sich sein Kopf und sein Arm in identischen Bewegungen, beinahe so, als wären sie miteinander verwachsen. Er hat den Blick meistens gesenkt, darum sieht er nur wenige Menschen und muss entsprechend selten grüßen.
Jeden Samstag mäht er den Rasen neben seinem Haus. Hin und wieder stottert der Rasenmäher, dann holt er einen kleinen roten Kunststoffkanister aus dem Keller und füllt Benzin in den Tank des Rasenmähers. Wenn der Auffangbehälter voll ist, nimmt er ihn ab, trägt ihn an den Rand des Grundstücks und schüttet das Schnittgut zwischen einigen Bäumen aus. Bisweilen wirkt es so, als würde er die Bäume mit dem geschnittenen Gras füttern, und tatsächlich wachsen sie erstaunlich schnell.
Seine Frau steht manchmal am geöffneten Fenster und schaut ihm zu, wie er den Rasen mäht. Wenn er eine Stelle nur unzureichend bearbeitet, weist sie ihn darauf hin, mit der strengen Stimme einer alten Lehrerin. Wahrscheinlich war sie nie eine Lehrerin. Vielleicht war sie schon immer streng. Der Mann grummelt einige Worte, mäht dann die bisher ausgesparte Stelle und lässt den Kopf noch ein wenig tiefer zwischen die Schultern sinken.
Im Herbst harkt er das Laub, im Winter schaufelt er Schnee, im Frühling schaut er lediglich hin und her. Auch das Harken und Schaufeln und Schauen erledigt er geflissentlich und mit großer Ehrfurcht. Aber es ist das Rasenmähen, das ihm offensichtlich am meisten entspricht. Nur das Rasenmähen ist ihm mehr ist als eine bloße Tätigkeit, ist mehr als eine Pflichtaufgabe. Jeden Samstag, wenn der Rasen gemäht ist, steht er da, wischt sich den Schweiß von der Stirn und sieht ein wenig stolz aus. Vielleicht ist er es auch.
An Tagen, die nicht zu warm und nicht zu kalt sind, geht er spazieren mit seiner Frau. Seine Schritte sind länger und schneller als ihre, weshalb die Frau bisweilen etwas zurückbleibt. Dann ruft sie mit ihrer strengen Stimme, er solle auf sie warten. Also wartet er und bemüht sich, seine Schritte fortan kürzer und langsamer zu machen. Hin und wieder schaut er prüfend zu seiner Frau, um zu verhindern, dass sie erneut zurückbleibt.
Wenn es längere Zeit nicht regnet, bewässert er den Rasen. Grundsätzlich könnte er einen Schlauch nutzen, mit einem Sprühaufsatz, könnte sogar einen Rasensprenger aufstellen. Doch stattdessen nimmt er seine gelbe Gießkanne hervor, füllt sie mit Wasser und gießt ein kleines Rasenstück, bis die Kanne leer ist. Dann füllt er sie wieder auf und bearbeitet das nächste Rasenstück in gleicher Weise. Wenn er den gesamten Rasen bewässert hat, stellt er die Gießkanne wieder an ihren Platz und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Irgendwann fällt die Frau um. Sie fällt nicht zum ersten Mal um, sie ist schon einige Male umgefallen, doch dieses Mal steht sie nicht mehr auf. Ihr Mann redet auf sie ein, doch sie antwortet nicht, ihre strenge Stimme bleibt stumm. Das Ambulanzfahrzeug fährt ein wenig auf den gemähten Rasen, und weil der Boden nass ist, hinterlässt es beim Wegfahren tiefe Spuren. Als der Mann am Abend allein zurückkehrt, bleibt er in der Dämmerung auf dem Rasen stehen und betrachtet die Reifenspuren. Er schüttelt den Kopf, der wie gewohnt tief zwischen den Schultern hängt. Anschließend geht er ins Haus.
Einige Tage später vergräbt er die Urne mit ihrer Asche auf der Wiese neben seinem Haus. Unter einem kleinen Bäumchen. Vielleicht wird das Bäumchen dereinst ein großer Baum. Ob die Tatsache, dass die Überreste einer Frau zwischen seinen Wurzeln liegen, auf sein Wachstum einen Einfluss hat, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Der Mann stellt eine kleine Porzellanfigur und einen Topf mit Vergissmeinnicht unter das Bäumchen. Dann tritt er einen Schritt zurück, mustert die Stelle und nickt kurz.
Wenn er nun spazieren geht, tut er es allein. Er bemüht sich weiterhin, seine Schritte kurz und langsam zu machen, obwohl es keine Veranlassung gibt, schließlich muss er nicht mehr verhindern, dass seine Frau zurückbleibt. Stattdessen ist er zurückgeblieben.
Der alte Mann mäht weiterhin jeden Samstag den Rasen. Er mäht auch beim Bäumchen, ganz vorsichtig, er macht einen Bogen um seine Frau. Später schneidet er das Gras neben der Grabstätte von Hand, mit einer kleinen Gartenschere. Wenn der Rasen gemäht und das Gras geschnitten ist, steht er da, wischt sich den Schweiß von der Stirn und sieht irgendwie anders aus als früher. Vielleicht ist er es auch.

Toll, wie Du es schaffst, mein Interesse beim Lesen dieser eigentlich doch unspektakulären Szene im Bann zu halten. Kompliment. Ich sehe diesen Mann förmlich vor mir, wenn ich aus dem Fenster schaue 🙂
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Vielleicht habe ich ja per Zufall genau deinen Nachbarn beschrieben… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Ohne Sinn alt werden geht, das war mein erster Gedanke. Aber wer bin ich schon – was für mich Sinn macht, ist andernorts eher Unsinn. Und umgekehrt dito.
Der letzte Absatz hat etwas beinahe liebevolles, versöhnendes.
Fein geschrieben!
L.G., Reiner
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Ob Sinn oder Unsinn, liegt sowieso im Auge des Betrachtenden und Erlebenden. Und du bist du. Das kann niemand sonst von sich behaupten… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Oh, der Arme; nun ist er wirklich alleine…
Keiner mehr da, auf den er acht geben muß.
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Ja, nur noch er selbst….
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
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Anders ist er sicher nicht, nur die Umstände, die ihr ihriges tun.
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Ja, die Umstände tun ihr ihriges. Und manchmal, wer weiss, tragen sie auch zu Veränderungen bei… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
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Gerne lieber Disputnik, immer wieder schön zu lesen deine Kurzgeschichten.
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Ein sehr feiner Text, mich tief beeindruckend …
LG vom Finbar
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Vielen Dank, lieber Finbar, das freut mich sehr!
Herzliche Grüsse…
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🌟🌹🌟🌹🌟
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