Sie stellt sich vor, wie es wäre, eine andere zu sein, doch sie scheitert, wie so oft, nein, wie immer, wie jedes Mal, denn die Vorstellung, eine andere zu sein, endete bisher ausnahmslos im Scheitern, im Misslingen, im Fehlschlagen, sie kann wohl noch tausend Mal versuchen, sich vorzustellen, eine andere zu sein, und dennoch bleibt sie die gleiche Person, die gleiche Frau, für sie gibt es nur ihr eigenes Ich und kein anderes, für sie gibt es nur ihren eigenen Kopf und ihren eigenen Bauch und ihre eigenen Brüste und ihre eigenen Kniescheiben, für sie gibt es nur ihre eigenen Gedanken und ihre eigenen Ängste und ihre eigenen Hoffnungen, für sie gibt es nur ihre eigenen Verfehlungen und ihre eigenen Sehnsüchte und halt, Stopp, Moment, genau, um ihre eigenen Sehnsüchte geht es, oder um ihr eigene Sehnsucht, nämlich jene Sehnsucht danach, eine andere zu sein, denn danach sehnt sie sich, mehr als nach all den anderen Dingen, nach denen sich sehnen lässt, sie sehnt sich nicht nach Ferne oder Weite, sie sehnt sich nicht nach Aufmerksamkeit oder Bestätigung, sie sehnt sich nicht nach Liebe oder Sex, sie sehnt sich nicht nach einem erfüllenden Beruf oder Säcken voller Geld, sondern sehnt sich vor allem danach, eine andere zu sein, und wenn sie sich danach sehnt, eine andere zu sein, sehnt sie sich damit zugleich von sich weg, sehnt sich möglichst weit weg von sich selbst, sehnt sich hinaus aus ihrem Körper, sehnt sich weg von ihrem Kopf und ihrem Bauch und ihren Brüsten und ihren Kniescheiben, sehnt sich hin zum Kopf und zum Bauch und zu den Brüsten und zu den Kniescheiben einer anderen Person, einer anderen Frau, ohne zu wissen, wer diese andere Person, diese andere Frau ist, wer sie sein könnte, und dieses Sehnen nach einer Unbekannten macht das Sehnen an sich ziemlich diffus, es ist ein undefiniertes Sehnen, ein unbestimmtes Sehnen, ein Sehnen ohne Substanz, und dass dem Sehnen die Substanz fehlt, macht die Sehnsucht nicht etwa leichter, sondern schwerer, sehr viel schwerer, die Sehnsucht wird zum Gewicht, zur Last, die Sehnsucht wird zum grossen steinernen Brocken, der auf die Seele drückt, zu einem Findling auf inneren Wiesen, und plump liegt er da, der Findling, träge liegt sie da, die Sehnsucht, stellt sich in den Weg, obwohl sie den Weg nicht kennt, und während sie über Sehnsucht sinniert, fällt ihr auf, dass Sucht in Sehnsucht steckt, schon im Wort und auch im Ding, die Sucht ist allgegenwärtig, sehnen macht süchtig, offensichtlich, die Sucht, sich zu sehnen, verdient ein eigenes Wort, das Wort Sehnsucht, und Sucht nach Sehnen bedeutet, dass es ohne Sehnen nahezu unerträglich wird, und eigentlich müsste sie sich nach dem Sehnen sehnen wie ein Junkie nach dem Heroin und eine Alkoholikerin nach dem Schnaps, doch so ist es nicht, sie ist nicht süchtig nach dem Sehnen, sie hat keine Entzugserscheinungen, wenn sie sich nicht sehnen kann, vielmehr ist das Sehnen einfach da, wie ein Kropf oder ein Muttermal, wie eine Veneninsuffizienz oder ein lahmes Auge, vielleicht auch nur wie ein emotionaler Tic, eine Störung im Gefüge, womöglich ist der Umstand, dass sie sich häufig vorstellt, eine andere zu sein, nichts anderes als eine hartnäckige Angewohnheit, eine Angewohnheit, die sie sich eigentlich auch wieder abgewöhnen könnte, aber da ist das eigentlich im Gedanken und da ist das könnte, da ist das Relativieren, da ist der Konjunktiv, und ohne Relativieren und Konjunktiv bleibt es dabei, dass sie sich vorstellt, wie es wäre, eine andere zu sein, und manchmal fragt sie sich, warum sie es tut, warum sie sich lieber in eine andere denken möchte als in sich selbst, doch sie findet keine Antwort, höchstens einige Erklärungsversuche in kleinen Worthäppchen, die sich um Selbstwert und dessen Mangel drehen, um gestörte Wahrnehmungen und wahrnehmbare Störungen, um Lieblosigkeit gegenüber sich selbst, und vielleicht ist das ein Grund, warum sie sich häufig danach sehnt, eine andere zu sein, vielleicht glaubt sie, eine andere könnte sie besser lieben als sie sich selbst, vielleicht glaubt sie, eine andere könnte erkennen, dass etwas Wertvolles in ihr liegt, in ihrem Kopf und in ihrem Bauch und in ihren Brüsten und in ihren Kniescheiben, in ihren Gedanken und in ihren Ängsten und in ihren Hoffnungen, vielleicht würde eine andere sogar etwas Wertvolles in ihren Verfehlungen und ihren Sehnsüchten sehen, doch eine andere kann es nicht geben, nicht für sie, denn für sie gibt es nur ihr eigenes Ich und kein anderes, für sie gibt es nur ihren eigenen Kopf und ihren eigenen Bauch und ihre eigenen Brüste und ihre eigenen Kniescheiben, für sie gibt es nur ihre eigenen Gedanken und ihre eigenen Ängste und ihre eigenen Hoffnungen, für sie gibt es nur ihre eigenen Verfehlungen und ihre eigenen Sehnsüchte und halt, Stopp, Moment, hier war sie bereits, sie dreht sich im Kreis, einmal mehr, wie so oft, nein, wie immer, wie jedes Mal, und sie stellt sich erneut vor, wie es wäre, eine andere zu sein, denn eine andere würde sich vielleicht nicht immer im Kreis drehen, aber eine andere kann es nicht geben.
