Diese Geschichte, sie handelt von Jakob, einem Mann, der vieles zu erzählen gehabt hätte, aber dennoch meistens zu schweigen pflegte. Als Jude überlebte er das Konzentrationslager der Nazis nur knapp. Seine Eltern und Geschwister jedoch wurden umgebracht. Trotz der erdrückenden Trauer und Traurigkeit zog Jakob nach dem Krieg in die lauten und lärmigen Städte, nach Zürich und München und später dann nach Berlin, wo er eine Kunstgalerie eröffnete. Kunst war schon immer seine große Liebe gewesen, eine andere Liebe kannte er nicht, und die Galerie machte diese Liebe greifbar. Zunächst lief die Galerie Eisenberg sehr erfolgreich und gewann schnell an Renommee, Künstler und Kenner gaben sich die Klinke in die Hand. Doch irgendwann begannen die Dinge, sich zu verändern. Die Geschäfte stotterten, die Besucher wurden spärlicher, die Räume blieben still. Jakob konnte sich den Grund nicht erklären. Andere Galerien in der Stadt waren nach wie vor erfolgreich und entwickelten sich prächtig. Nur bei der Galerie Eisenberg schien Sand ins Getriebe geraten zu sein. Etwa zur gleichen Zeit sah Jakob auf der Straße einen jungen Mann, der auf einem kleinen Hocker saß und Bilder verkaufte. Jakob hatte im Laufe seines Lebens schon sehr viel Kunst gesehen, gute und schlechte Kunst, verbotene und entartete Kunst, Werke der großen Meister und der jungen Wilden. Doch nichts davon vermochte ihn so ergreifend zu berühren wie die Bilder des jungen Mannes auf dem kleinen Hocker. Jakob fragte ihn, ob er die Bilder gemalte hatte. Dann fragte er ihn nach seinem Namen. Dann lud er ihn zum Kaffee ein. Er hieß David, hatte einst ein Kunststudium begonnen, musste es aber abbrechen, weil das Geld an allen Enden fehlte. Nach einigen weiteren unglücklichen Wendungen wohnte David in einem kleinen Lagerraum ohne Dusche und Toilette und versuchte, seinen Hunger mit Malen zu vertreiben. Jakob war kein Philanthrop, kein großherziger und großzügiger Mäzen, kein Wohltäter, dazu fehlte ihm das Geld und vor allem die Kraft. Dennoch nahm er David bei sich auf, ließ ihn im Gästezimmer wohnen und arbeiten. Zudem stellte er seine Bilder in der Galerie Eisenberg aus, veranstaltete sogar eine Vernissage, die aber nur wenige Besucher anlockte. Jakob hätte gerne mehr für David getan, denn er mochte ihn sehr, wahrscheinlich mehr als jeden anderen Menschen. David seinerseits war Jakob zutiefst dankbar und fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wohl in seiner Haut. Zwei Jahre wohnten die beiden Männer zusammen, teilten ihr Leben, ihre Gedanken. Dann wurde Jakob krank. Der Krebs versuchte, was den Nazis nicht gelungen war, und Jakob wusste, dass er dieses Mal nicht entkommen können würde. David kümmerte sich um ihn, musste aber hin und wieder auch einige geschäftliche Termine wahrnehmen, denn immer mehr Kunstfreunde wurden auf ihn aufmerksam. Er verkaufte die ersten Bilder noch zu kleinen Preisen, doch der Marktwert seiner Werke stieg zusehends. Die Galerie Eisenberg entwickelte sich immer mehr zum veritablen Kunstmagneten, zog wieder Künstler und Kenner an wie zu besten Zeiten. Jakob konnte sich indes nur indirekt daran erfreuen, denn er war mittlerweile zu schwach geworden, um noch in der Galerie tätig zu sein, sondern lag mehrheitlich im Bett. Am Abend vor seinem Tod schob David ihn im Rollstuhl in die Galerie. Sie war eigentlich geschlossen und entsprechend still, niemand war da, doch in der Luft hing deutlich wahrnehmbar das Echo von Stimmen. David erzählte Jakob von erfolgreichen Auktionen, von den zahlreichen Besuchern, von den staunenden Augen. Und Jakob, der kaum mehr sprechen konnte, lächelte dankbar. Nach Jakobs Tod erfuhr David, dass der alte Mann ihm die Galerie überschrieben hatte. Er solle damit machen, was er wolle, war im Testament vermerkt. David hätte die Galerie schließen und sich voll und ganz seinem Wirken als Künstler widmen können. Er hätte sie veräußern und sich selbst vom Erlös ein Haus kaufen können. Doch stattdessen renovierte er die Galerie. Er riss alte Wände heraus und zog neue Wände ein, baute das zweite Stockwerk des Gebäudes um, erneuerte den Boden. Zur großen Feier zur Wiedereröffnung der Galerie Eisenberg kamen Künstler, Kunsthändler, Kunstfreunde, sogar der Bürgermeister und der Kulturminister. Nur Jakob fehlte, doch eigentlich war er immer da, in diesen Räumen, in denen seine Liebe zur Kunst noch immer greifbar war und blieb. Diese Geschichte, sie ist damit am Schluss angelangt. Diese Geschichte, sie ist aber nicht zu Ende. Diese Geschichte, sie geht immer weiter. Diese Geschichte, sie ist erfunden. Aber es bleibt die Hoffnung, dass sie wahr sein könnte.
Eine wundervolle hoffnungsvolle Geschichte, lieber Disputnik.
Ich bin ganz gerührt und erfreut über den Verlauf dieser Geschichte,
auch wenn es *nur* ein Märchen sein sollte.
Meine Seele hüpft und lächelt erfreut. Liebe Grüße an Dich von Bruni
LikeGefällt 2 Personen
Oh, deine hüpfende und lächelnde Seele freut mich sehr, liebe Bruni!
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und liebe Grüsse zurück…
LikeGefällt 1 Person
… und ich wünsche der Geschichte mehr als alles in der Welt, dass sie wahr wird. Es ist zu vermuten, dass David auch Jude ist, der aber zum Glück seinen Weg macht und Anerkennung findet. – Warum die Galerie von Jakob plötzlich nicht mehr lief, darüber kann ich nur spekulieren.
Lieben Gruß zu dir
LikeGefällt 3 Personen
Im unendlichen Land der Fantasie ist die Geschichte ja durchaus wahr und die beiden Männer zumindest vorübergehend glücklich…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück!
LikeGefällt 1 Person
Es ist ein großes Glück, einem Kunstmäzen aufzufallen, der einem armen Künstler zu Erfolg verhilft und sein Vermögen an ihn weitervererbt, wenn er alt wird und stirbt …
schön erzählt, lieber Disputnik!
Herzliche Grüße vom Finbar
LikeGefällt 4 Personen
Vielen lieben Dank dir, lieber Finbar! Und bei dieser Geschichte geht das grosse Glück wohl sogar weit über das vererbte Vermögen hinaus… Herzliche Grüsse zurück!
LikeGefällt 3 Personen
So könnte es funktionieren, dass die Geschäfte, wenn keine Familie da ist, weiter gereicht werden.
Man sucht sich halt eine Ersatzfamilie.
LikeGefällt 2 Personen
Das wäre ein Glück, ja… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
LikeGefällt 1 Person