Leon hat seine Armbanduhr verloren und zugleich die Liebe gefunden. Ein guter Handel, findet er, obschon er sich durchaus der Tatsache bewusst ist, dass es eine wunderbare Uhr war, eine Rado, Schweizer Qualitätsarbeit, robust und mit präzisem Uhrwerk. Leon mochte die Datumsanzeige sehr, die Ziffern waren beinahe quadratisch, mit abgerundeten Ecken. Die Uhr hatte ihn nie im Stich gelassen, doch er hat seine Uhr im Stich gelassen, denn er hat sie verloren. Aber eben, die Liebe, der gute Handel; der Verlust seiner Rado ist zwar betrüblich, aber der leise Schmerz ebbt ab, wenn Leon an Dora denkt. Dass sich ihr Name aus den gleichen vier Buchstaben zusammensetzte wie der Name seiner Uhr, war ihm sofort aufgefallen. Er liebt Anagramme. Er liebt Zufälle. Vor allem aber liebt er Dora. Sie ist nicht rasiert in der Intimzone, höchstens ein wenig gestutzt hat sie die krausen Haare, sie wirken gepflegt und angenehm weich. Natürlich sind ihre Schamhaare nicht ausschlaggebend für die warmen Gefühle, die er Dora gegenüber empfindet, aber sie passen in das Bild, wie auch das große Muttermal an ihrer Schläfe in das Bild passt, der Leberfleck auf ihrem Rücken, die dunklen Locken, ihre tiefe Stimme. Dora ist nicht perfekt, trotz der gepflegten Intimzone. Doch sie ist perfekt für ihn.
Das war nicht immer so. Als er Dora zum ersten Mal traf und mit ihr ins Gespräch kam, machte sie einen reservierten Eindruck. Leon glaubte ein gewisses Misstrauen in ihren Augen zu erkennen, das auch nicht verschwand, wenn sie lächelte oder lachte. Manchmal schien es, als würde eine unsichtbare Kraft sie zurückhalten. Leon hatte sich längst in sie verliebt, doch ihre Distanziertheit ließ ihn hadern und zweifeln. Zwar sagte sie bereitwillig und scheinbar freudig zu, als er fragte, ob sie sich wieder einmal treffen könnten, aber wenn sie sich dann sahen, war da wieder dieses Misstrauen in ihrem Blick. Sie tauschten Berührungen aus, küssten sich sogar einige Male, doch Dora schien derartigen Dingen geradezu mit Ekel zu begegnen. Einmal befürchtete Leon, sie würde sich während eines Kusses übergeben müssen, und zog sich erschrocken zurück.
Etwa zu jener Zeit, als ihm seine Armbanduhr abhanden gekommen war, begann sich Dora jedoch plötzlich zu wandeln, blühte förmlich auf und wirkte in seiner Gegenwart gelöst und fröhlich. Die Küsse wurden unbeschwert und leidenschaftlich, ihr Zusammensein ungleich körperlicher. Schließlich schliefen sie zum erstem Mal zusammen, und bald darauf wollte Dora seine Eltern kennen lernen. Leon dachte nur noch selten an seine Rado. Um zu wissen, ob er eine schöne Zeit erlebte, brauchte er keine Uhr.
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Doras Vater hatte stets eine Rado getragen. Drei Modelle insgesamt, alle mit Metallarmband. Dora liebte den Gedanken, dass sich der Name der Uhr ihres Vaters aus den gleichen vier Buchstaben zusammensetzte wie ihr eigener Name. Sie liebte Anagramme. Sie liebte Zufälle. Vor allem aber liebte sie ihren Vater. Er war der wichtigste Mann in ihrem Leben, auch dann noch, als er bereits nicht mehr lebte. Alles an ihm hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt; sein kantiges Kinn, das Muttermal an seinem Hals, die Haare auf seinen Unterarmen und auf seiner Brust, seine tiefe Stimme. Als er starb, behielt sie seine Rado, als wäre die Uhr ein Denkmal, eine Art Verbindung zu ihrem Vater. Sie bewahrte sie in einer kleinen Holzkiste auf dem Nachttisch neben dem Bett auf, und wenn sie bisweilen von der Traurigkeit übermannt wurde, nahm sie die Uhr aus der Kiste und legte sie sich um ihr Handgelenk.
Dass Leon eine Rado trug, fiel ihr sofort auf, als sie ihn kennenlernte, und sie konnte es kaum ertragen, die Uhr an seinem Handgelenk zu sehen. Es war beinahe das gleiche Modell wie die Uhr ihres Vaters, und diese Tatsache verwirrte sie sehr, zu sehr. Bei den ersten Treffen war sie ungewohnt fahrig und nervös, wenn auch nicht wegen Leon, der ihr von Anfang an ein Gefühl der Wärme und Sicherheit vermittelte, sondern wegen der Rado an seinem Handgelenk. Als sie sich zum ersten Mal küssten, verspürte Dora eine unangenehme Übelkeit und musste ein wenig würgen, was auf Leon wohl nicht sonderlich prickelnd wirkte. Er ließ abrupt von ihr ab, und Dora wusste, dass sie etwas unternehmen musste.
Zwar hatte sie Schuldgefühle wegen seiner Uhr, doch diese wurden überschäumend fortgeschwemmt von der Gewissheit, dass Leon ohne die Rado ein zauberhafter Mensch war, dem sie alles anvertrauen konnte. Sie fühlte sich zu Hause in seinen Armen, in seinen Augen. Bisweilen klopfte ihr Herz im Hals, und Dora ertappte sich immer wieder dabei, wie sie grinsend auf hohe Häuser oder ferne Hügel blickte. Als sie Leon fragte, ob er sie seinen Eltern vorstellen würde, hatte sie das Gefühl, sich selbst neu kennenzulernen.
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Leon hat seine Armbanduhr verloren und zugleich die Liebe gefunden. Ein guter Handel, findet er noch immer. Und dann, zu seinem Geburtstag, schenkt ihm Dora eine neue Uhr. Keine Rado, aber eine Eterna. Dass sich der Name der Uhr aus den gleichen sechs Buchstaben zusammensetzt wie der Name seiner Mutter Renate, fällt ihm sofort auf. Er liebt Anagramme. Er liebt Zufälle. Er liebt auch seine Mutter. Vor allem aber liebt er Dora.
Als ich das Foto sah, wurde mir fast übel, und zwar wegen des Muttermals, das so wahnsinnig schnell entarten kann. Aber davon wollte ich gar nicht sprechen.
Natürlich habe ich sofort nach diesen Uhren gegoogelt – die Schweizer haben nicht nur bei Uhren stolze Preise.
Es ist schon eigenartig, welche Zufälle es wirklich gibt und welche man sich zusammen basteln kann, wenn man auf bestimmte Dinge oder Buchstaben fixiert ist.
Findest du eine schöne Uhr mit den Buchstaben von Clara? Die muss ich dann wohl kaufen 🙂 – oder auch nicht!
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Ja, den Schweizern kann’s auch bei den Uhren nicht teuer genug sein… Grosse finanzielle Aufwände musst du aber nicht befürchten, ich hab keine Uhr gefunden, deren Marke ein Anagramm deines Namens wäre…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, und herzliche Grüsse
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Hier im Nachgang zu diesem Disput, nicke ich neugierig und begab mich sofort auf die Suche nach einer Uhr für Clara. Richtig – gibbet nich. Aber tada: Alcar, das Stahlrad, eine Leichtmetallkonstruktion. Etwas zu groß fürs Handgelenk, ok, so ein Stahlrad, ein High-Tech-Endprodukt, das Deinen Namen anagrammisch beinhaltet. Ohne sowas Lästiges wie eine Zeitanzeige, was meinst?
Ich fand die Geschichte übrigens wieder umwerfend und ich mag zu sehr diese Zusammenhänge und wie sie sich ergeben. Wer braucht schon eine Uhr, der so jemanden wie Dora zum Lieben hat?
Liebe Feengrüße in die Runde
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Ein Stahlrad, wie wunderbar! Clara wird ihre helle Freude haben und nicht aufhören können, allen von „ihrem“ Stahlrad zu erzählen!
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte und für das Stahlrad…
Herzliche Grüsse zurück
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Liebe Lieblingsfee – immerhin kenne ich noch Toffee-Fee, Kaf-Fee und andere – das ist mal eine Idee, die brauchbar ist. Wozu bräuchte ich NOCH EINE Uhr, wo doch in jedem Zimmer und auf jedem Bahnsteig eine hängt. Sofort und gleich werde ich es mir jetzt ergoogeln, das ersteigern werde ich auch lassen, da auch hier mir ein Fahrrad reicht.
Claragrüße von mir
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