Evelyn hat eine Packung mit Papiertaschentüchern neben dem Bett liegen, und manchmal, wenn sie in der Nacht erwacht, tastet sie danach, nimmt ein Taschentuch aus der Packung und trocknet ihre Augen, ohne zu wissen, warum sie feucht sind. Evelyn mag den Klang des Windes, der das Haus zum Knarren bringt, doch hin und wieder befürchtet sie, dass es fortgeweht werden könnte, weit weg, und in einem dunklen Tal landen würde, das keinen Sonnenschein kennt. Evelyn hat bisweilen Hunger, isst aber nichts, trinkt lediglich Wasser, ein großes Glas voll. Evelyn spielt immer die gleichen Zahlen in der Lotterie, und dass sie bisher noch nie gewonnen hat, ist für sie ein Zeichen, dass die Chancen steigen, dass ihre Zahlen gezogen werden. Evelyn hat nackte Augen, sie geben viel zu viel von ihr preis, darum blickt sie häufig zu Boden. Evelyn spürt jeden Morgen, wie sich die Muskeln in ihrem Nacken während der Nacht verkrampft haben, und sie versucht, die Verhärtungen mit ihren Fingern zu lockern, doch es gelingt nie, und häufig verspannt sie sich dabei noch mehr. Evelyn hört manche Lieder immer wieder, in stetigen Wiederholungen und so oft, dass sie die Lieder dann kaum mehr erträgt und nie mehr hören mag. Evelyn streichelt manchmal unbewusst die Blätter ihres Gummibaumes. Evelyn schreibt ihrer Patentante in Belgien jedes Jahr eine Weihnachtskarte, obwohl sie gar nicht weiß, ob die Patentante noch lebt. Evelyn hätte gerne eine Katze, sie mag Katzen sehr, doch sie befürchtet, dass sie keine gute Katzenbesitzerin sein würde, sie hat Angst davor, dass die Katze unglücklich sein oder gar sterben könnte, also verzichtet sie darauf, eine Katze zu haben, und redet sich ein, allergisch auf Katzenhaare zu sein. Evelyn geht zum Arzt und erzählt ihm davon, dass sie schlecht schläft, und der Arzt zuckt mit den Schultern, untersucht ihr Blut und gibt ihr ein Beruhigungsmittel, rein pflanzlich. Evelyn fragt sich manchmal, ob es zum Sterben zu früh oder zu spät sei. Evelyn hat eine Zeitschrift abonniert, eine Lifestyle-Zeitschrift mit unzähligen Ratschlägen, was man tragen soll, wohin man reisen soll, was man essen und trinken soll, wen man lieben soll, wie man leben soll, doch Evelyn lässt die Zeitschrift meistens ungelesen liegen, bis die nächste Ausgabe kommt. Evelyn kauft auf dem Flohmarkt alte Postkarten und hängt sie in ihrer Wohnung an die Wand, und je länger sie dort hängen, desto mehr glaubt sie daran, dass ihr jemand diese Postkarten geschrieben und geschickt hat. Evelyn geht abends zu Bett, liegt lange wach, und häufig, wenn sie sich zur Seite dreht, tastet sie hinüber, um zu prüfen, ob noch genügend Papiertaschentücher in der Packung sind.
„Evelyn hat nackte Augen, sie geben viel zu viel von ihr preis, darum blickt sie häufig zu Boden.“
– Dieser Satz! Hammer! –
Sie lebt zurückgezogen, traut sich ins Leben nicht hinaus, aber sie will dem Leben auch keinen Zugang zu ihrem Inneren gewähren … Als würde sie in einer Zwischenwelt existieren, ohne Lebendigkeit, weder außen noch innen, in einer Leere gefangen, unfähig die unsichtbaren Wände dieser Leere durchzubrechen …
Traurig und auch so lebensnah …
Liebe Grüße
Annie
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Es ist mitunter wohl fürchterlich lähmend, das Existieren in dieser Zwischenwelt…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken zu Evelyn… Herzliche Grüsse!
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Ich glaube, wir ahnen gar nicht, wie viele Leute so ereignislos leben, sich immer wieder die Frage stellen: Soll ich oder soll ich doch nicht.
Meine Mentalität ist anders, obwohl ich es mir auch nicht „getraut“ habe, einen Hund anzuschaffen, aber eher aus anderen Gründen.
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Ja, viele Menschen stehen sich wohl selbst im Weg, verhindern das Weiterkommen, das Glücklichwerden…
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken! Liebe Grüsse, auch an den nicht angeschafften Hund…
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Das ist der beste Gruß, den ich je gelesen habe: … an den nicht angeschafften Hund!
Als ich es noch wollte, kannte ich auch die Rasse schon – jetzt wäre ich unsicher. Kein reinrassiger, gekaufter oder gar überzüchteter, am besten, eine hübsche und vor allem kluge Promenadenmischung. Ich glaube, ich könnte dumme Hunde nicht leiden.
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Ich glaube, mein liebster Hund wäre eine Katze…
Herzlichen Dank dir und liebe Grüsse!
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Eine einsame junge Frau, die so lebt, als wäre sie alleine auf der Welt.
Warum sieht sie das Schöne nicht? Hindern sie die Zweifel an sich selbst`?
Aber warum zweifelt sie so? Es muß doch einen Grund haben, einen Auslöser für ihr Verhalten
Lienbe Grüße von Bruni
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Mindestens einen Grund, einen Auslöser wird es meistens geben in solchen Fällen, doch nicht immer findet er sich, und wenn er sich findet, weiss man wohl nicht immer, wie damit umzugehen ist…
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni, und beste Grüsse zurück!
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Sie muss sich mehr raustrauen aus ihren Leben. Sonst ist es ein Leben ohne zu leben.
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Ja, sie müsste doch, sie sollte doch. Und vielleichthoffentlich gelingt es ihr auch…
Herzlichen Dank dir fürs Lesen!
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Immer wieder gerne.
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Evelyns allmähliche Entdeckung des geistigen Lebens.
Vielleicht sollte sie sich doch eine Katze zulegen… ?!
Herzliche Herbstgrüße vom Finbar
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Oh ja, eine Katze würde ihr guttun. Und ich glaube, sie wäre auch eine gute Katzenbesitzerin…
Herzlichen Dank fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar, und beste Herbstwintergrüsse zurück…
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Das wäre sie, lieber Disputnik, aber sie steht sich dbzgl. selber im Wege herum, ist zu selbstzweiflerisch veranlagt…
Bei dir lese ich immer sehr gerne!
Herzlich, Finbar
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Danke dir, noch einmal, lieber Finbar. Und ein wunderschönes Wochenende dir…
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🍁🍂🍃🍂🍁
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Hört sich nach einer netten Person an
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Auch nette Personen sind nicht immer glücklich… Vielen Dank dir fürs Lesen!
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