Sie war anders. Er füllte seinen Kopf mit so vielen Eindrücken, mit Gesichtern und Händen und Körpern, mit Frauen und Männern, mit Namen und Daten, mit Häuserecken und Heuschrecken, mit Meereswellen und Markenlogos, mit sexuellen Erfahrungen und emotionalen Entbehrungen. Er füllte alles in seinen Kopf, und irgendwann tröpfelte und floss es wieder hinaus, versickerte im Sand. Martha nicht. Martha blieb. Martha war anders.
Er hatte sie nur einmal gesehen, einen Abend lang. Nie hatte er sie berührt, nie an ihrem Hals ihren Duft eingeatmet. Er war mit Freunden zum Fluss gegangen, man trank und rauchte, traf andere Leute. Jemand, den er kannte, kannte offensichtlich jemanden, der sie kannte. Irgendwann saß man gemeinsam am Feuer, er ganz in ihrer Nähe, Menschen kamen, Menschen gingen, und einige Minuten lang waren nur Martha und er übrig. Sie redeten über Selbstwertgefühl und Musik, über das Älterwerden und über unerfüllte Träume, über das Ende der Kindheit und das Ende der Welt. Später sprangen sie mit einigen anderen nackt in das kalte Wasser des Flusses. Von ihrem Körper sah er nur die Silhouette, ganz kurz. Irgendwann lächelte sie ihn über die Wasseroberfläche hinweg an. Er erblickte sie noch kurz, als sie sich wieder angekleidet hatte. Schließlich verschwand sie. Er sah sie nie wieder. Und dennoch unaufhörlich. Martha blieb. Martha war anders.
Zu Beginn dachte er lediglich an jenen Abend am Fluss, dachte an sie, an ihre Stimme, ihr Gesicht, ihre Bewegungen. Er fragte in seinem Freundeskreis, ob jemand mehr über sie wusste, doch niemand schien sie zu kennen. Nicht einmal ihren Nachnamen brachte er in Erfahrung. Er ging mit weit geöffneten Augen durch die Stadt, hielt an den merkwürdigsten Orten nach ihr Ausschau, doch sie blieb verborgen. Und je länger er bei seinen Bemühungen, sie wiederzusehen, ohne Erfolg blieb, desto größer wurde seine Sehnsucht nach ihr. Der ganze Rest war ihm gleichgültig. Martha war anders.
Bisweilen dachte er, es würde vorübergehen. Doch das tat es nicht. Es wurde nur noch intensiver, die Sehnsucht wurde drängender. Seine Gedanken blieben längst nicht mehr nur bei jenem Abend. Sie reisten in alle Richtungen, in alle Zeiten, aber immer zu ihr hin. Er wurde zum Geist, der sie in den Nächten besuchte, ein Geist, der an ihrem Bett stand und über sie wachte, sie beobachtete, wie sie schlief. Er weckte sie nicht, blieb still und legte sich nicht neben sie; viel zu zerbrechlich schien ihm die makellose Anmut des Augenblicks. Die Gedanken eilten weiter. Manchmal ging er mit Martha einem Seeufer entlang, dann wieder durch die Straßen von London oder Barcelona. Er schob ihr eine Erdbeere in den Mund, nahm ihr im Theater den Mantel ab, malte ein Aktgemälde von ihr, überraschte sie mit einem Picknick am Waldrand, lag mit ihr in einer Hängematte, lief mit ihr durch Maisfelder. Und immer wieder stellte er sich an ihr Bett, um über sie zu wachen.
Wer Martha wirklich war, erfuhr er nie. Martha war einfach Martha. Martha war anders.
Du beschreibst die Sehnsucht nach dem Unerklärlichen, das ein Geheimnis umgibt und Du gibst ihm einen Namen – MARTHA
Während ich schreibe, muß ich plötzlich lachen, weil mir einfällt, daß mein Rufnahme, der Name in meinem Paß, der da an erster Stelle steht, auch Martha ist, lieber Disputnik .
Meist vergesse ich es, aber eben fiel es mir ein *schmunzel*
Es ist ein wunderschöner Text, in dem die Sehnsucht einen Namen hat
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Oh, wie schön, liebe Bruni (oder Martha)… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine wunderfeinen Worte! Herzliche Grüsse ins Wochenende…
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❤
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Vielen Dank!
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