Da ist schwarzer Kaffee, der allmählich in der Tasse erkaltet. Da ist die warme Stimme von Nina Simone, die aus großen alten Lautsprechern in den Raum fließt. Da ist das Licht eines Morgens, so hell, dass es schmerzt in den Augen. Da ist die Selbstverständlichkeit, dass man stutz oder schmunzelt, wenn sie sagt, dass sie Ingenieurwissenschaften studiert hat. Da ist eine Szene aus einem Film, in welcher ein Foto von einer Art Schwert gezeigt wird, das sich ein Mann unter Androhung des Todes umschnallen musste, um damit eine Frau zu vergewaltigen. Da ist ihr Gynäkologe, der ihren Körper so mechanisch und mit kühler Berechnung behandelt, als sei er lediglich ein Apparat. Da ist die Frage ihrer Mutter, wann sie denn endlich Großmutter werde. Da ist der Geschmack im Mund, der sich auch von Pfefferminzzahnpasta nicht überdecken lässt. Da ist die Tatsache, dass sie häufiger an Frauen als an Männer denkt, wenn sie sich selbst berührt, aber bisher ausschließlich mit Männern Sex hatte. Da ist das Selbstbildnis, das sie in der Schule malen musste, ganz kantig und eckig, ihr Kopf gleicht einem Würfel. Da ist der kleine Riss im Spiegel, unten an der Kante, ein Mahnmal zur Erinnerung an einen Augenblick der Wut. Da ist die Notiz, dieses inflationär zitierte Carpe diem, von ihrer Schwester an den Kühlschrank geschrieben und noch immer lesbar, obschon sie es schon unzählige Male zu entfernen versuchte, einmal sogar mit einem Scheuerschwamm. Da ist dieser Geruch, der hartnäckig in den Räumen hängt, ganz egal, wie oft sie durchlüftet, ein Geruch wie damals im kleinen Zimmer im Altersheim, in welchem ihre Großmutter starb. Da ist die kleine Dose aus bemaltem Holz, in welcher sie Kondome aufzubewahren pflegte. Da ist das Kneten der Hautfalten an Bauch und Schenkeln, das Drücken und Kneifen, bis die blasse Haut rötlich schimmert. Da ist das zaghafte Lächeln, weil eigentlich alles in Ordnung ist, wenn sie nicht jedes eigentlich hinterfragt. Da ist hin und wieder der Eindruck, dass der Körper, in welchem sie wohnt, vielleicht ein Haus ist, aber keine Zuhause. Da ist eine Absplitterung am Schienbeinknochen, die sich unter der Haut ertasten lässt, eine Folge eines Unfalls beim Klettern. Da ist die stetige Befürchtung, unter den Armen nach Schweiß zu riechen. Da ist der Blick ihres Vorgesetzten, das sind die Blicke ihrer Mitarbeiter, manchmal auch Worte, und da ist der Irrtum, dass unsichtbare Wunden nicht bluten. Da ist der Gedanke an einen Moment im Badezimmer, einen Moment voller Scham, obschon sie damals allein war. Da ist der vergebliche Versuch, Tränen aus ihren Augen zu treiben. Da ist das Echo eines Lachanfalls, als sie gemeinsam mit einer Freundin in einer Umkleidekabine eines Herrenausstatters Anzüge anprobierte. Da ist die warme Stimme von Nina Simone, die aus großen alten Lautsprechern in den Raum fließt. Da ist schwarzer Kaffee, der allmählich in der Tasse erkaltet.
Tausend Seelen wohnen in deinem Kopf, und keiner der Geschichten scheint dieser rote Faden anzuhaften, der sich bei vielen Autoren aus dem eigenen Charakter in den der Protagonisten einschleicht… Wahnsinn, wie jeder Charakter einzigartig bleibt.
Liebe Grüße!
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Herzlichen Dank für deine Worte! Wie viele Seelen da sind, weiss ich nicht, aber ich denke schon, dass gewisse Fäden sich in vielen Charakteren wiederfinden; komplett vermeiden lässt sich das wohl kaum… Nochmals besten Dank und liebe Grüsse…
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Da ist die wenige Zeit die bleibt, zu folgen all den Texten, erfahrungsgemäß jeder davon lesenswert und weiß doch, wenn ich sie später lese, keiner wird sich lesen wie kalter Kaffee.
Respekt für diesen. Da ist alles drin.
Freundlichst
Ihr Herr Hund
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Oh, lieben Dank für den Respekt (sowieso und immer) und fürs Lesen und für die Worte (Ihre) und die Freude (meine)… Herzliche Grüsse…
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Und da ist wieder meine Anerkennung für diese großen kleinen Textfragmente.
Danke fürs Ersinnen und Aufschreiben.
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Ich habe zu danken, fürs Lesen und Mitsinnen und für die Worte!
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