Ich habe einen Menschen getötet. Nun stehe ich in einer bedrückend stillen Wohnung, die nicht meine Wohnung ist, die ich aber trotzdem bestens zu kennen scheine, und versuche, die blutgetränkten Kleider, die ich in meinen zitternden Händen halte, irgendwo zu verstecken. Ich öffne eine kleine Tür, hinter der ich einen Abstellraum weiß, und will die Kleider darin verstauen, doch dann zögere ich. Was ich auch unternehme, es wird sich kein Ausweg mehr ergeben. Zwar weiß ich nicht, wer das Opfer war, da ist keine Leiche, auch kann ich mich nicht daran erinnern, wie und weshalb ich es getan habe. Dass ich es getan habe, steht jedoch außer Frage. Sie werden bald merken, dass ich ein Mörder bin, alle werden es wissen. Und sie werden mich finden. Also tue ich, was noch zu tun bleibt. Ich wache auf.
Es war nicht mein erster Mord, soviel ist gewiss. Doch selten zuvor war das Bewusstsein, ein unterbewusster Mörder zu sein, so stark ausgeprägt wie dieses Mal. Unmittelbar nach dem Aufstehen wasche ich mir die Hände, weil ich sie noch immer blutig glaube. Die Rückstände unter den Fingernägeln sind besonders hartnäckig.
Die Psychologen und Traumdeuter und spirituellen Sachverständigen, sie wissen natürlich, weshalb ich ein Mörder geworden bin, welcher Übeltaten ich mich schuldig gemacht habe und welche unterdrückten Bedürfnisse sich ihre dringend notwendigen Wege bahnen. Offensichtlich steht mir eine Zeit großer seelischer Konflikte bevor, ich muss mit Kummer und Versagen rechnen, wahrscheinlich ein großes Opfer bringen und mich gleichzeitig davor hüten, unbedacht zu handeln. Das ist schon ohne vertiefte Recherche sehr verwirrend, weshalb ich davon absehe, mich noch intensiver über mögliche Gründe und Deutungen zu informieren. Ich wünsche mir, der Mord wäre gar nicht geschehen. Das Rückgängigmachen aber, es funktioniert nicht, natürlich nicht. Ich hocke im Wachsein fest, die Fragezeichen hängen an unsichtbaren Schnüren von der Decke. Wem gehören die Kleider, wessen Blut ist in die Fasern gedrungen? War ein Männerhemd oder eine Damenbluse dabei? War es jemand, den ich kannte, oder ein Fremder? In wessen Wohnung befand ich mich, und warum wusste ich so genau über die räumlichen Gegebenheiten Bescheid, obwohl ich sie nie zuvor betreten hatte?
Eigentlich ist es egal. Für den Mord kann ich nicht belangt werden, es bedarf keiner Rechtfertigung, auch muss ich nicht mit hasserfüllten Blicken der Angehörigen des Opfers oder klickenden Handschellen rechnen. Zwar behaupten Mordkommissare, Psychiater und forensische Gutachter aus Erfahrung und in allgemeiner Übereinstimmung, dass jeder zum Mörder werden kann. Und wahrscheinlich haben sie Recht. Ich bin jedenfalls ziemlich sicher, dass ich morden könnte, zumindest in gewissen Fällen. Doch bisher bin ich nur im Traum ein Mörder. In der Realität bin ich keiner. Trotzdem fühle ich mich nicht unschuldig. Womöglich kann ich es nicht sein. Und so schön und gut und einfach es wäre, wenn der Traum tatsächlich einen Mord und dessen Hintergründe thematisiert hätte, weiß ich doch, dass ich in meinem Unterbewusstsein keine Krimiserien aus dem Fernsehen nachspiele.
Ich habe einen Menschen getötet. Nun stehe ich in einer bedrückend stillen Wohnung und versuche, die blutgetränkten Kleider zu verstecken. Doch was ich auch unternehme, es wird sich kein Ausweg mehr ergeben. Sie werden mich finden. Also tue ich, was noch zu tun bleibt.
Moderner Edgar Allen Poe auf deutsch!
Ein wenig hat mich dieser Text von dir, lieber Disputnik, an das Mahlstrom-Gefühl beim Lesen des Verräterischen Herzens erinnert…
großartig geschrieben!
Liebe Grüße
vom Finbar
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Vielen herzlichen Dank dir, lieber Finbar, fürs Lesen und fürs Mahlstrom-Gefühl und für deine Worte. Freut mich sehr, dass dir die Mörderworte gefallen…
Liebe Grüsse zurück!
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